In die Höhle des Löwen

Der niederländische Maler Hiernymous Franken der Ältere war ein flämischer Maler des 16. Jahrhunderts, der in dem oben gezeigten Gemälde die Vorstellung eines Hexensabbats illustrierte. Ein Hexensabbat war laut der im 15.-17. Jahrhundert verbreiteten Vorstellung ein geheimes, nächtliches Treffen einer gefährlichen Sekte von Ketzerinnen und bösen Zauberinnen, die sich dort zusammenfanden, um Gifte und Tränke zu brauen, gotteslästerliche Rituale durchzuführen und sich in sexuellen Orgien mit dem Teufel zu ergehen. Der Name Sabbat kommt dabei in einer Übertragung von einem Feindbild zum nächsten vom jüdischen “Schabbat”, dem heiligen Ruhetag Gottes im Judentum.

Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass die Fiktion des Hexensabbat eine traurige Rolle in Hexenprozessen spielten. Wortwörtliche Hexenprozesse gehören zwar der Vergangenheit an, doch noch immer neigen wir dazu, Andersdenkende und Außenseiter unserer eigenen Weltsicht mit brennender Leidenschaft zu verfolgen. Wir versuchen, uns als moralisch überlegen zu positionieren, graben in den Archiven des Internets nach Belegen ihrer fragwürdigen Gesinnung, stellen sie öffentlich bloß oder versuchen sogar, ihre Karriere, Freundschaften oder ihr ganzes Leben zu ruinieren. Zu all diesen Dingen sind wir unzweifelthaft fähig, wenn es darum geht, Angehörigen der feindseligen Sekten der ‘Bösen’ ihre gerechte Strafe zukommen zu lassen.

Manche von uns würden sagen, dass sie Derartiges niemals tun. Aber wer hat nicht zumindest schon einnmal in vertrauter Runde mit Freunden einen Witz über die armen verblendeten Spinner gemacht, die an völlig absurde Dinge glauben, in ihrem Leben die ganz falschen Prioritäten setzen und überhaupt die Welt so gar nicht verstanden haben.

Sich im Internet empören oder hinter vorgehaltener Hand über andere zu lästern, während man von Freunden umgeben ist, die in allem zustimmen, ist leicht – zu leicht. Wir wollen uns höhere Standards setzen und unsere gemütliche Komfortzone verlassen, um diese Menschen zu suchen, die sich so fundamental von uns unterscheiden. Statt die Hexen zu jagen, wollen wir leise ihrer Versammlung nähern, einen Blick darauf werfen und uns unser eigenes Bild machen. Und vielleicht sitzen wir sogar mit ihnen am Lagerfeuer, unterhalten uns für eine Weile, und stellen fest, dass sie vielleicht fremdartig und ein wenig seltsam sind, wir sogar gravierende Differenzen haben mögen, aber nicht die Kreaturen des Teufels sind, für die wir sie gehalten haben.

Praktische Umsetzung

Um sich in die Höhle des Löwen zu begeben, sucht man sich eine Gruppe von Menschen, die klar den eigenen Positionen widersprechen. Umso mehr Verachtung, Unverständnis, Unwohlsein und Ablehnung man persönlich gegenüber dieser Gruppe empfindet, desto besser (aber auch desto schwieriger). Ein paar Ideen für Gruppen: Aktive Kirchgänger. CDU-Wähler. Neopaganisten. Transgender-Aktivisten. Trans-Exclusionary-Feministen. Neoreaktionäre. Zeugen Jehovas. Friday-For-Future-Demonstranten. Praktizierende Muslime. Begeisterte Fußballfans. Hobby-Astrologen. Punks. Goths. Impfgegner. Informatik-/Psychologie-/Philosophie-/Theologie-/Gender-Studies-Studenten. Verschwörungstheoretiker. Veganer. Anhänger einer Freikirche.

Als nächstes sucht man ein Treffen, Meetup, einen Stammtisch oder ein anderes Event, an dem diese Menschen zusammenkommen und Gäste willkommen sind. Auf Facebook, Meetup.com und anderen Plattformen lassen sich solche Veranstaltungen in größeren Städten meist recht leicht finden. Und der nächste Schritt ist natürlich: Hingehen. Das Ziel ist, als interessierter Teilnehmer mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, mehr über sie zu erfahren, sie über ihre Gründe, ihre Perspektiven und ihre Ziele zu befragen. Dabei ist die hohe Kunst, die eigene konträre Position nicht durch Herablassung oder Konfrontation durchscheinen zu lassen, sondern sich trotz der abweichenden Meinung auf eine freundliche und konstruktive Weise zu befragen. Wenn die Gruppe, die man besucht hat, am Ende frustriert oder wütend ist, dann hat man etwas falsch gemacht!

Nach dem Treffen bleibt nur noch, das Erlebte zu reflektieren und sich zu vergegenwärtigen, was man Neues über die Menschen erfahren hat, und ob es sich gelohnt hat.

Online-Version

Eine Variante für Jahre, in denen eine globale Pandemie sich ausbreitet, sowie für Menschen in kleinen Orten ohne viele soziale Events, funktioniert auch online. Hierbei besteht die Aufgabe darin, eine Internet-Community der entsprechenden Gruppe zu finden: Eine Facebook-Gruppe, ein Subreddit, ein Board, einen Discord oder Vergleichbares. Doch reines Zuhören beziehungsweise Mitlesen reicht hier nicht aus. Die Herausforderung besteht darin, sich konstruktiv am Austausch zu beteiligen und dabei positives Feedback zu erhalten. Wie dieses genau gemessen werden kann, hängt von der Plattform ab, aber beispielsweise je nach Gruppengröße 10-50 Likes auf Facebook oder Upvotes auf Reddit für wertvolle Beiträge zu erhalten, ist ein guter Anfang. Wichtig ist hierbei, das man wirklich offen und ehrlich an den relevanten Diskussionen teilnimmt. Es geht nicht darum, von den widerstreitenden Punkten abzulenken, oder gar eine Position vorzugeben, die man gar nicht wirklich vertritt. Das Ziel ist, mit einer ehrlichen Repräsentation der eigenen Sicht einen Austausch zu schaffen, der für beide Seiten wertvoll ist.

Nach diesem Experiment ist es interessant zu sehen, ob man seine Position gegenüber der Gruppe verändert hat, ob man eventuell mehr über sie weiß als zuvor, und wie das das Bild geprägt hat, was man von diesen Menschen hat.

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