Adverse Kollaboration

Adverse Kollaboration bedeutet kurz: Zwei Personen mit unterschiedlichen, einander widersprechenden Ansichten zu einem kontroversen Thema arbeiten zusammen, um sich tiefgreifend mit den Argumenten und Fakten auseinanderzusetzen und eine gemeinsame Zusammenfassung der Thematik zu erstellen, die sie beide vertreten können.

Das hat mehrere Vorteile:

  • Die Teilnehmer werden sich mit den stärksten Argumeten und Gegenargumenten beider Seiten befassen und Studien, Sichtweisen und Beispiele vorfinden, die sie selbst möglicherweise nie entdeckt hätten
  • Vorgefasste Meinungen, Biases und unhinterfragte Sichtweisen können das Endergebnise nicht so leicht verzerren, wie es der Fall wäre, wenn man sich alleine auf die Suche nach der Wahrheit macht
  • Durch die Zusammenarbeit mit einem vermeintlichen “Gegner” lernt man einerseits, die Fehler in der eigenen Argumentation zu erkennen, aber vor allem auch, den Kontrahenten als vernünftigen und aufrichtigen Menschen ernst zu nehmen
  • Es mag eine heftig geführte Debatte geben, aber es gibt kein Publikum, bei dem durch Polemik und Schlagfertigkeit “Punkte” errungen werden können. Ebenso wenig kann einer der Teilnehmer durch das Eingeständnis eines Fehlers sein Gesicht verlieren. Die Diskussion findet nur privat zwischen den beiden Seiten statt und kann sich somit auf die tatsächliche Evidenz konzentrieren.

Aber es bedeutet auch, dass man sich zumindest dazu überwinden muss, eine Person der gegenteiligen Meinung am gleichen Tisch zu tolerieren und mit dieser konstruktiv zusammen zu arbeiten.

Der Begriff der Adversarial Collaboration wurde von dem bekannten Verhaltensökonomen und Rationalitätsforscher Daniel Kahneman geprägt, der auch als Autor von “Thinking, fast and slow” bekannt ist. Es war ursprünglich ein „Protokoll, das für zwei Forscher entwickelt wurde, die konkurrierende Hypothesen vertreten, und die gemeinsam daran arbeiten wollen, ihre Widersprüche aufzulösen.”

Adverse Kollaboration bringt Individuen aus verschiedenen politischen Strömungen, aus gegensätzlichen Forschungsdisziplinen und Standpunkten zusammen und fördert eine intenstive Zusammenarbeit im Dienst von Aufrichtigkeit, gegenseitigem Respekt und Wahrheitsfindung. Sie werden tatsächlich in der akademischen Forschung eingesetzt, um Paper zu verfassen, die sich mit kontroversen Themen befassen. Die Methode kann auch dabei helfen, einem breiteren Publikum umstrittene Themen nahezubringen, wenn dadurch glaubhaft verschiedene Sichtweisen zu einer Synthese gebracht werden.

Das Projekt kann nur erfolgreich sein, wenn beide Seiten sich bemühen, die besten Beweise für ihre jeweilige Position zu finden und einzubringen. Außerdem muss jede Seite die andere überprüfen, darf Behauptungen nicht einfach nur schlucken, sondern muss sie genauestens hinterfragen, damit dass Endergebnis keine Fehler oder Unwahrheiten enthält.

Das Endergebnis kann eine gemeinsame Präsentation, ein Paper oder ein Essay sein. Dieses stellt die vereinigte Schlussfolgerung der beiden Seiten dar, das heißt: dort stehen keine Sätze der Form “Alice findet, dass A zutrifft, und führt dafür Studie 1 an, aber Bob sieht diese Studie kritisch.” Sondern eher “Hier ist eine Studie, die darauf hindeutet, dass A wahr sein könnte. Diese Studie gilt aber nur für bestimmte Situationen, und hatte außerdem nur ein sehr kleines Sample, ist also möglicherweise nicht so einfach generalisierbar.” Alles, was in das Endergebnis aufgenommen wird, muss von beiden Seiten akzeptiert werden können.

Es ist möglich, dass die gemeinsame Schlussfolgerung ist, dass es noch nicht genügend Daten, eine zu dürftige Forschungslage oder keine überzeugenden Beweise für die eine oder andere Seite gibt. In diesem Fall können beide Teilnehmer gemeinsam beschreiben, welche Art von Evidenz, Untersuchung oder Studie notwendig wäre, oder welche Heuristiken man bis dahin (einvernehmlich) anwenden kann.

Einige Beispiele für anspruchsvolle Themen, einige davon eher mit einer Tendenz zum Wissenschaftlichen, andere davon eher ethisch:

  • Ist Religion insgesamt positiv oder negativ für das Leben von Menschen?
  • Ist Atomenergie anderen Formen der Energiegewinnung (Kohle, Wasser, Sonne, Wind) überlegen, beispielsweise in punkto Klima, Umweltschutz oder Wirtschaftlichkeit?
  • Wie weit sind wir von der Erschaffung einer künstlichen Superintelligenz entfernt?
  • Welches Leid wird durch eine omnivore Ernährungsweise ausgelöst, und wie ist das Leid verschiedener Tiere (Kühe, Hühner, Fische, Insekten etc.) quantifizierbar?
  • Sollte Gene Editing bei Menschen eingesetzt werden? Welche Entscheidungsgewalt dürfen Eltern über die Gene ihrer Kinder haben?
  • Sollte der Stadt “leichte Eugenik” durchführen, beispielsweise Schwerkriminelle mit einer Geldprämie dazu ermutigen, keine Kinder zu bekommen, oder jugenden Studierenden erhöhtes Kindergeld auszahlen?
  • Sollte ein todkranker Mensch sich kryonisch einfrieren lassen, um später erweckt und geheilt zu werden?
  • Sollten Meditation und spirituelle Erfahrungen ernst genommen werden, und welche messbaren oder belegbaren Auswirkungen haben sie?
  • Hat ein simulierter Mensch (bspw. Brain-Upload) die gleichen Rechte wie ein biologisch gewöhnlicher Mensch?
  • Wie viel staatliche Strafverfolgung oder Zensur von menschenfeindlichen oder verfassungsfeindlichen Aussagen (und ihren Grauzonen) sollte im Internet stattfinden dürfen?
  • Sind der Islam und westliche Demokratie miteinander kompatibel?
  • Bis zu welchem Zeitpunkt ist Abtreibung vertretbar?
  • Ist das bedindungslose Grundeinkommen eine gute Idee?
  • Sollten wir das All kolonialisieren, um uns vor potentiell die Menschheit bedrohenden Katastrophen auf der Erde zu schützen?
  • Sollten alle Impfungen gesetzlich verpflichtend sein?
  • Ist Kampfsport nützlich, um sich in echten Gefahrensituationen zu verteidigen?
  • Ist eine bestimmte Form der Ernährung, beispielsweise keto oder intermittend fasting, tatsächlich positiv für die Lebenserwartung oder dauerhafte Gesundheit?
  • Haben Menschen in Stammeskulturen ein glücklicheres Leben als solche in landwirtschaftlichen Gesellschaften, und wie steht es im Vergleich zu einer modernen technologisierten Lebensweise?

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