Double Crux

Double Crux ist ein Gesprächstechnik, die vom Center for Applied Rationality entwickelt wurde. Das Ziel besteht darin, die Annahmen und Prämissen zu finden, die entgegengesetzten Meinungen zugrunde liegen, und damit zum Kern der eigentlichen Meinungsverschiedenheit vorzudringen und diese damit in vielen Fällen auflösen.

In erster Näherung kann man sich einen Menschen als eine Black Box vorstellen, die Daten aus seiner Umgebung aufnimmt und Überzeugungen und Verhaltensweisen ausgibt. Wenn zwei Menschen nicht einverstanden sind, ihre internen Prozesse also zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, kann das verschiedene Konsequenzen haben.

  • Direkter Streit, in dem jede Seite behauptet, im Recht zu sein
  • Unterstellung, dass die andere Seite entweder dumm oder böswillig sein muss, um zu diesem Ergebnis zu kommen
  • “Agree to disagree”, ein friedliches Vermeiden des Konflikts, bei dem man allerdings der Wahrheit keinen Schritt näher kommt.

Double Crux hingegen strebt an, Konflikte zu analysieren und schlussendlich aufzulösen.

Es soll dazu dienen, die übliche antagonistische, kriegerische Dynamik eines Meinungskonflikts durch etwas Produktiveres und Konstruktiveres zu ersetzen. Normalerweise verwenden wir während eines Streits einen erheblichen Teil unserer mentalen Ressourcen darauf, im Voraus zu erraten, wie wir die Glaubensstruktur unseres Gegners am besten untergraben und widerlegen können, während wir unsere eigenen Gedanken verschleiern, um unsere Position nicht angreifbar zu machen. Bei Double Crux geht es nicht darum, eine Diskussion zu gewinnen, sondern gemeinsam einen klareren Blick auf die Realität zu gewinnen.

Voraussetzungen

Alle Teilnehmer müssen bereit sein, die Möglichkeit des eigenen Irrens anzuerkennen. Sie müssen ehrlich in Betracht ziehen, dass sie vielleicht im Unrecht sein könnten.

Weiterhin müssen beide Seiten der jeweils anderen gute Absichten unterstellen und annehmen, dass sie aus ihrer Perspektive gute Gründe für ihre Annahmen haben. Sie müssen zudem Interesse an der Position der anderen Seite zeigen.

Eine weitere Vorraussetzung ist ein grundsätzlichs Vertrauen in die Existenz einer objektiven Wahrheit, die zumindest theoretisch gefunden werden kann, mag es in der Praxis auch schwer bis unmöglich sein.

Vorgehensweise

Eine These A wird festgelegt, zu der beide Seiten einen unterschiedlichen Standpunkt haben. Eine Seite des Konflikts glaubt, dass “A” wahr ist, die andere Person ist davon überzeugt, dass “nicht A” zutrifft.

Beispiel: “Schuluniformen sollten verpflichtend sein.”

Als nächstes werden die Begriffe und Definitionen geklärt, damit beide Seiten auch wirklich über die gleiche Thematik sprechen. Dabei klären sich manchmal schon einige Missverständnisse. Man sollte hier nicht versehentlich bereits in Argumentation abgleiten – das Ziel ist nur, ein gemeinsames Verständnis davon zu finden, was der Satz bedeutet, über den die Uneinigkeit herrscht.

Nun machen sich beide Seiten auf die Suche nach unterliegenden Grund für ihre Überzeugung A. Sie fragen sich: Warum glaube ich das? Was ist der Grund für diese Position? Welche Fakten über die Welt begründen diese Haltung? Was müsste gegeben sein, damit man der These nicht mehr anhängt, und was denkt man ist tatsächlich wahr?

Die Antwort auf diese Fragen ist eine zweite Aussage, B, ist entscheidend für die Position, die beide Seiten zu A haben (es ist “die Crux“, und zwar für beide), und sie sind sich ebenfalls nicht darüber einig.

Beispiel: “Schuluniformen reduzieren Mobbing, in dem sie die Klassenunterschiede zwischen ärmeren und reicheren Schülern nicht so offensichtlich machen.”

Die Crux kan als eine Wenn-Dann-Aussage formuliert werdn, der beide Seiten zustimmen: Wenn die unterliegende Begründung zuträfe, dann würde daraus die obige These folgen. Wenn ein Fakt über die Realität erwiesen würde, dann müsste man die Position vertreten.

Wenn Schulinformen signifikant gegen Mobbing helfen würden, dann wäre es sinnvoll, sie verpflichtend einzuführen.

Als nächstes wird überprüft, ob es sich wirklich für beide Seiten um die “Crux” der Uneinigkeit handelt.

Die Seite, die Schuluniformen befürwortet, tut dies vor allem aufgrund dieses Arguments. Mobbing soll reduziert werden, Schuluniformen helfen dabei, ergo sind sie gut! Wenn Schuluniformen diesen positiven Effekt nicht hätten, wäre die Pro-Seite nicht mehr für Schuluniformen, denn dieses Argument “B” ist der ganze Sinn der Sache – die Crux.

Die Gegner-Seite wiederum glaubt, dass dieses Argument nicht zutrifft. Beispielsweise hält sie es für optimistischen Unsinn, reines Wunschdenken, dass in der Praxis niemals zutrifft – Kinder werden immer einen Weg finden, Statusunterschiede zu zeigen. Die Contra-Seite meint zwar, wenn Schuluniformen diesen Effekt hätten, wären sie tatsächlich möglicherweise eine gute Sache, aber das tun sie ja nicht. Auch für sie ist also “nicht B” der entscheidende Faktor, warum sie auch in Bezug auf das ursprüngliche Thema A die Gegenposition einnehmen.

Dennoch stimmen beide der Implikation zu: “Falls B zutrifft, dann ist auch A richtig.”

B ist eine Aussage, die etwas konkreter und näher an der empirischen Welt ist, während die ursprüngliche These A noch sehr allgemein und abstrakt war. Sie ist ein wenig leichter wissenschaftliche zu überprüfen, beispielsweise mit einer Studie, Messung oder faktischen Beobachtungen (wenn auch vielleicht nicht unbedingt leicht zu ermitteln). Im Beispiel ist die These A “Schulen sollten Schuluniformen vorschreiben” eine reine Forderung, für die konkretere Aussage B über Mobbing jedoch könnte man sich zumindest vorstellen, dass sie mit Studien und Experimenten überprüft und bestätigt oder widerlegt werden könnte.

Nun wird die Crux von beiden Seiten reflektiert: Man stellt sich für einen Moment vor, man hätte die gegenteilige Position zu B – daraus sollte sich bei einer echten Crux dann auch eine andere Meinung über die These A ergeben. Können sich beide darauf einigen, dass “wenn B, dann A; wenn aber nicht B, dann nicht A” ?

Diesen Schritt, die gemeinsame “Crux” B zu suchen, kann man noch mehrere Male wiederholen – manchmal ergibt sich so eine ganze kausale Kette von Gründen, die aufeinander aufbauen. Letztendlich kommt man jedoch zu einem faktisch entscheidbaren Punkt, an dem sich beide Seiten nicht einig sind, aber der empirisch überprüfbar ist und dessen Wahrheit oder Falschheit entscheidend für die Überzeugung ist, die beide Seiten haben.

Und das ist auch schon alles. Aber was ist daran nun so großartig – letztendlich haben sich beide Seiten ja noch immer nicht geeinigt?

Tatsächlich sind an diesem Punkt die Meinungsverschiedenenheiten bereits größtenteils aufgelöst, denn im Prinzip sind sich beide Seiten nun über die logische Kette einig. Wenn die grundlegende Frage in die eine Richtung entschieden wird, dann würden beide sich für “Pro” entscheiden, deutet die Evidenz jedoch in die Gegenrichtung, dann würden beide “Contra” für die sinnvollere Position halten. Beide Seiten teilen die gleiche Argumentation und ein kausales Modell. Es fehlen nur die unterliegenden Daten, um zur gleichen Endposition zu kommen.

Nun bleibt nur noch, die unterliegenden Fakten auf Wikipedia nachzuschlagen (im leichtesten Fall), sich durch Berge von Paper und Meta-Analysen zu graben (für schwierigere Fälle) oder sich zu überlegen, welche theoretische aber noch nicht durchgeführte Forschung man möglicherweise bräuchte (im schwersten Fall). Doch prinzipiell sind sich beide Seiten nun bereits einig.

Der Kernpunkt an Double Crux, ist das man nicht länger versucht, die andere Person zu überzeugen – dabei übersieht man häufig die eigentlichen Kernannahmen, die den Konflikt überhaupt erst hervorbringen. Der Trick ist, herauszufinden, woher die unterschiedlichen Ansichten stammen, und die beiden Sichtweisen zu synchronisieren. Mit Hilfe von Double Crux kann man die gesamte Struktur der eigenen Überzeugungen und die der anderen Person analysieren, sodass man sich mit dem Gegenüber auf ein gemeinsames Mindset einigen kann.

Einige Tipps

Manchmal ist es leicht, die unterliegende Annahme, Bedingung oder Begründung für eine Position zu finden, manchmal aber auch eher knifflig. Hier sind ein paar praktische Tipps:

  • Versuche, emotional gefärbte und moralische Ansichten für einen Moment zu ignorieren und die kausalen Mechanismen zu betrachten. (Diese können aber auch etwas mit Normen in der Gesellschaft zu tun haben)
  • Versuche, sehr breite oder allgemeine Thesen auf konkretere Szenarien einzuschränken
  • Versuche, die Folgen von “A” bzw. “nicht A” zu beschreiben, und daran zu erkennen, was die unterliegenden Annahmen sind. Auf welche Weise wird “A” eine gute Zukunft und “nicht A” eine Katastrophe bringen (oder umgekehrt)
  • Verrsuche, unklare Aussagen zu quantifizieren, beispielsweise “meistens”, “viele”, “so gut wie nie”, “häufig” oder “wahrscheinlich”.

Wie wendet man Double Crux an?

Einerseits lässt sich Double Crux als Technik formell einsetzen, wenn beide Seiten mit dem Konzept vertraut sind. Man sollte jedoch nicht zu eng an dem formalen Konzept festhalten, sondern die Technik eher als Richtlinie im Hinterkopf behalten, um damit die Diskussion in die richtige Richtung zu lenken, und sie nicht zu starr anwenden.

Weiterhin kann Double Crux auch nützlich sein, um “alltägliche” Diskussionen weniger konfrontativ zu gestalten, selbst wenn nur eine von beiden Personen das Konzept kennt und (subtil) einfließen lässt. Man fragt beispielsweise, was die unterliegenden Annahmen sind, was die Bedingungen für jemandes Überzeugung sind, und findet dann heraus, wo man sich einig ist und wo die Crux liegt, was beide Positionen wesentlich kompatibler macht, sobald gemeinsame Argumentationen gefunden sind.

Beispiele

Ernährungswissenschaft

Statement “A”: Man sollte keine stark verarbeiten Lebensmittel essen, das ist wissenschaftlich erwiesen.
“Nicht A”: Von wegen wissenschaftlich! Diese Aussage ist Unsinn!
(Offensichtlich haben wir hier noch keine Übereinkunft…)

Zunächst einmal müssen sich Pro- und Contra-Seite auf klare Definition einigen. Bei “ungesund” kommen sie schnell zu einer Übereinkunft (Lebenserwartung, Ereignisse wie Herzinfarkt und Schlaganfall etc.), aber “stark verarbeitete Lebensmittel” ist schwerer zu definieren. Verarbeitet kann heißen: geräuchert, gepresst, extrahiert, gekocht, gebacken, gepöckelt, mit Zusatzstoffen versetzt, usw. Sie kommen zu dem Schluss, dass vershiedene Formen der Verarbeitung vermutlich unterschiedliche Auswirkungen haben. Sie entscheiden sich, den Fokus einzugrenzen, und formulieren eine neue Crux.

“Wenn viele stark verarbeitete Lebensmittel schädliche Stoffe enthalten, dann sollte man sie nicht essen.”

Die Contra-Seite und die Pro-Seite sind sich einige, dass wenn die Crux zutrifft, dann auch die Aussage oben zumindest in einem großen Teil entschieden ist. Allerdings ist beiden nach stärkerer Auseinandersetzung mit dem Thema klar, dass sie die Crux noch einmal verfeinern müssen.

Neue Crux: “Wenn wissenschaftliche Studien, die für die notwendigen Standards erfüllen, ergeben, dass diese Stoffe wirklich schädlich sind; und wenn diese Stoffe häufig bestimmten Lebensmitteln enthalten sind; dann sollte man diese weniger essen.”

Nach zwei “Runden” Double Crux können sich beide auf diese kausale Kette einigen, und nun in Harmonie miteinander gemeinsam an der schwierigen Studienlage der Ernährungswissenschaften verzweifeln.

Politik

Statement “A”: Mit Kandidat X hat die Partei die besten Chancen, sich in den Wahlen durchzusetzen.

“Nicht A”: Die meisten Gegenkandidaten wären deutlich besser geeignet, zu hohen Wahlergebnissen zu führen.

Die Pro-Seite sagt, dass sie die These glaubt, denn (mögliche Crux B): Kandidat X vertritt am Stärksten das, was das Volk sich wünscht.

Die Contra-Seite stimmt zu – das ist also keine Crux. Doch die Contra-Seite glaubt, dass Kandidat X nicht das notwendige Charisma besitzt, um die Bevölkerung auch wirklich von seinen Thesen zu überzeugen. Ein neuer Vorschlag für die Crux B: Die Pro-Seite meint, dass die inhaltliche Punkte des Kandidaten genügen, um den Wahlsieg zu erringen. Die Contra-Seite sagt, dass das inhaltliche Programm bei weitem nicht ausschlaggebend sind.

Beide Seiten glauben, dass wenn Inhalt alleine ausreichen würde, der Kandidat ideal wäre, aber falls nicht, er dann ein eher schwacher Kandidat ist.
Die Crux ist gefunden. An diesem Punkt sagt die Pro-Seite, dass sie das überzeugend findet, und Kandidat X vielleicht doch nicht der Beste ist.

Links

Post auf Lesswrong, die Inspiration für diesen Artikel

Eine Diskussion über die Nachteile und Probleme mit Double Crux, auch auf LessWrong

Eine Beschreibung von Double Crux auf dem Blog von Eric Herbose für Effektivem Altruismus und Philosophie

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