27 251 Tage

27 251 Tage sind seit dem Ende des letzten Krieges in dieser Stadt vergangen. Niemand von uns war dabei. Nicht einmal unsere Eltern könnten uns noch davon erzählen und die meisten Großeltern, sofern sie noch am Leben sind, waren zu jener Zeit allerhöchstens Kinder. Das bewusste Erleben des bewaffneten, systematischen Kampfes von Menschengruppen auf Leben und Tod ist uns hier und heute, mit Ausnahme einer verschwindend geringen Minderheit, fremd geworden. Sicherlich, diese Tatsache mag ein Grund zur Freude sein. Doch sollten wir nicht die Naivität besitzen, zu glauben, dass dies zwangsläufig immer so sein wird. 

Denn Krieg war immer schon da. 

Mögen russeauistische Denker die menschliche Natur als rein, unschuldig und kooperativ beschrieben haben, ein Ideal, welches durch den Sündenfall der Zivilisation unwiderbringlich zerstört ward, so wissen wir nunmehr, dass Thomas Hobbes ein treffenderes Portrait unserer Art gezeichnet hat. Wie Pinker beschreibt, starben ausgehend von archäologischen Funden 15% der Menschen in prämodernen Jäger-Sammler-Gesellschaften gewaltsame Tode, deren Häufungen auf größere gewaltsame Konflikte schließen lässt. An manchen Fundstellen klettert die Zahl gar auf 60%. Auch unter modernen Jägern und Sammlern in Südamerika, den Phillippinen und Australien kommen wir im Schnitt auf 14, mit einem Maximum von 30%. Gleiches gilt für die Jäger und Hortikulturisten auf Neu-Guinea oder im Amazonas-Delta, deren Durchschnitt gar bei 24.5% liegt. 

Und es betrifft nicht nur uns. Ließ sich das Ideal von Frieden und Kooperation für den Menschen nicht aufrecht erhalten, sodann doch zumindest für unsere nächsten Verwandten im Tierreich, oder? Doch spätestens mit Goodalls Beobachtungen in Tansania in den 70ern musste auch dieses Bild in sich zusammenbrechen: Zwei verfeindete Gruppen von Schimpansen, die ursprünglich aus der gleichen immer weiter gewachsenen Gemeinschaft hervorgegangen waren, bekämpften sich über vier Jahre aufs Äußerste. Goodall selbst war aufs Äußerste verstört: „Ich hatte jahrelang Probleme, mit diesem neuen Wissen klarzukommen. Oftmals, wenn ich in der Nacht aufwachte, sprangen mir unaufgefordert entsetzliche Bilder in den Kopf – Satan [einer der Affen], wie er seine Hand unter Sniffs Kinn hält, um das Blut zu trinken, das aus der großen Wunde in seinem Gesicht fließt; der alte Rodolf, normalerweise so gütig, aufrecht stehend, um einen Vier-Pfund-Stein auf den ausgestreckten Körper von Godi zu schleudern; Jomeo, wie er einen Streifen Haut von Dés Oberschenkel reißt; Figan, wie er auf den angeschlagenen, zitternden Körper von Goliath, einem seiner Kindheitshelden, wieder und wieder losgeht und einschlägt.“

Die Verbreitung der Landwirtschaft und mit ihr das Entstehen der ersten staatenähnlichen Gebilde, die ein Gewaltmonopol zum Zwecke der eigenen Bereicherung zu etablieren begannen, ermöglichten erstmals Kriege von Größenordnungen, wie sie zuvor undenkbar gewesen wären: Während wir von einigen wenigen Affen und mehreren Dutzend Jägern und Sammlern sprechen, konnte das assyrische Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht am Ende der Bronzezeit 300 000 Soldaten unter Waffen stellen. Die Überlieferungen der assyrischen Kunst geben uns Beispiele, was diese Armee mit den ihnen Unterlegenen getan hat: Im British Museum können heute noch Darstellungen von Gefangenen bewundert werden, denen die Zungen herausgerissen werden, bevor man sie bei lebendigem Leibe häutet oder die gezwungen werden, die Knochen ihrer Väter zu zermahlen bevor man sie in den Straßen Ninivehs exektuiert. Die Bibel liefert uns genug weitere Beispiele der Grausamkeit des Krieges jener Tage. 

Doch waren es die gleichen Fortschritte in der gesellschaftlichen Organisationsfähigkeit, der Landwirtschaft und Staatsführung, die es den Assyrern ermöglichten, Unaussprechliches mit ihren Feinden zu tun, die andererseits kulturelle Blüten entstehen ließen: Die konfuzianische Gesellschaft, die attische Polis, die römische Res Publica – sie alle wären ohne die wachsende Macht des Staates und seine Fähigkeit zur Einigung und Verteidigung durch den bewaffneten Konflikt denkbar gewesen – eine Fertigkeit, die insbesondere im Kampf mit barbarischen Nomaden und Reitervölkern immer wieder aufs Neue auf die Probe gestellt wurde: Während der mongolischen Invasionen des Hochmittelalters könnten bis zu 5% der Weltbevölkerung getötet worden sein, die Bevölkerung Persiens fiel während jener Zeit von 2.5 Millionen auf weniger als 250 000. In Bagdad alleine starben zwischen 200 000 und 1 Million Soldaten, Frauen und Kinder. Die größte Bibliothek des Zeitalters wurde dort vernichtet: Überlebende sprachen davon, dass die Ströme des Tigris sich verfärbten – Schwarz durch die Tinte der in den Fluss geworfenen Bücher, rot durch das Blut der getöteten Wissenschaftler und Philosophen. Ihre Siegesfeier über das gefallene Kiev zelebrierten die Mongolen im Wortsinne auf den noch lebenden Körpern ihrer Feinde: Das Festmahl fand auf einer riesigen Holzplatte statt, darunter liegend die langsam verendende, gefesselte Generalität des Kiever Rus. 

Wenn wir auch von dieser spezifischen Heimsuchung durch Fortunas Hand verschont geblieben sein mögen, so erfasste uns bald die katastrophale Wucht der Konfessionskriege, die von 1618 bis 1648 tobten: Manche Regionen dürften mehr als die Hälfte ihrer Bewohner eingebüßt haben, Deutschland insgesamt vielleicht ein Drittel. Der Krieg forderte also über fünf Millionen Tote, schätzt man die Vorkriegsbevölkerung auf 15 bis 16 Millionen. Und die Natur in ihrer gnadenlosen Gleichgültigkeit verschlimmerte all dies noch: In den 1560er Jahren setzte eine besonders kalte Phase der Kleinen Eiszeit ein: Wiederholt froren selbst große Seen wie der Zürichsee oder der Bodensee zu. Eisige Winter und verregnete Sommer häuften sich. Die schlimmste Folge war, dass es unmöglich wurde, Vorräte anzulegen. War ein Krisenwinter gerade so überstanden, war die Not im darauffolgenden Jahr noch größer.

Gewiss: In Anbetracht all dieser Gräuel zivilisierten wir uns, nach und nach. Die Westfälische Ordnung garantierte Regeln und selbst wenn Krieg nach wie vor ein unbeschreiblicher blutiger Wahnsinn bleiben würde, so geschah dies zumindest in gewissen Grenzen: Statt wertvolle Soldaten im Angesicht schlechter Chancen zu Opfern, zog man sie zurück. Zivilisten wurden besser behandelt. Eine Muskete, ein Säbel oder eine Kanonenkugel verwandelten einen menschlichen Körper immer noch in eine hässliche Fleischmasse, doch der Furor, die Blutlust früherer Tage, schien im Europa jener Tage verschwunden. Die Gedanken der Aufklärung betonten die Sinnlosigkeit des Tötens und die Bedeutung des Friedens. 

Kant schrieb in seiner Theorie des ewigen Friedens, dass Demokratien keinen Krieg gegeneinander führen. Doch verkannte er in seinen theoretischen Überlegungen das Potential der Demokratie für die Kriegsführung: Ein Krieg, der sich nach 1789 nicht mehr nur um territoriale Schachspiele zwischen Fürstenhäusern drehte, sondern im Sinne eines höheren Ideals erstmals, wie mit der Levée en masse 1792 geschehen, das gesamte Volk in die Kampfespflicht nahm bedeutete ungleich höhere Einsätze. So hoch, dass die absolute Vernichtung des Feindes zum moralischen Imperativ wurde. Der erste “totale Krieg”, wie es Bell beschreibt. 

Gemeinsam mit den technologischen Wundern, die die industrielle Revolution brachte, schuf dies die Voraussetzung alles, was folgte. Weitreichendere, präzisere und energiereichere Gewehre und Artillerie ließen althergebrachte Offiziers- und Generalsherrlichkeiten im prächtigen Uniformen hoch zu Ross oder dekorativ auf Feldherrenhügeln während des Krimkrieges verblassen. Die höheren Gesellschaftsschichten lagen mittlerweile mit dem „einfachen Soldaten“ genauso im Dreck oder versteckten sich in beschußsicheren Unterständen. In den über elf Monaten der Sewastopol-Belagerung wurden von allen Kriegsparteien 120 Kilometer Gräben ausgehoben. Es wurden etwa 150 Millionen Gewehr- und 50 Millionen Geschützschüsse abgegeben. Nur ein Vorgeschmack auf die 56 000 Kilometer des ersten Weltkriegs und die alleine auf Seiten der Amerikaner und Briten mehr als 8.6 Milliarden Schuss: Auf dem Höhepunkt seiner Macht verfügte das römische Imperium über 645 000 Soldaten unter Waffen. Alleine die Deutsche Offensive an der Marne umfasste 750 000 Soldaten, denen 1 Million Franzosen und Briten gegenüberstanden. Maschinengewehre, Luftwaffe, Artillerie (die über teils dutzende Kilometer Distanz schießen konnte), Panzer, Stacheldraht, Grabenkrieg, Granaten, Giftgas – wir waren weit gekommen seit jenen Tagen, in denen Affen sich mit Steinen den Schädel einschlugen, ja selbst die alte Praxis des Völkermords hatten wir in der Zeit, die wir heute wohl noch am ehesten mit dem Begriff “Totaler Krieg” verbinden, durch industrielle Meisterschaft auf ein ganz neues qualitatives Niveau gehoben. 

Doch wir hören nicht auf, uns stets aufs Neue zu überraschen: Von nun an war unser militärisches Vernichtungspotential erstmals auf einem Niveau angelangt, dass es durch die Auswirkungen eines nuklearen Winters das Überleben unserer gesamten Spezies aufs Spiel setzen könnte. Nur die Macht der Spieltheorie konnte diesen Irrsinn einhegen und heute wissen wir, wie knapp wir der Katastrophe mehrfach entgangen sind. Wer weiß, wie nah wir ihr in Zeiten wachsender Unsicherheit und in Abwesenheit eines klaren globalen Hegemons noch kommen werden.

Nicht zuletzt, da wir in Zeiten der Mutual Assured Destruction zumindest von der Rationalität der Akteure auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs ausgehen konnten. Doch der technologische Fortschritt entbindet uns von der Notwendigkeit des totalen Krieges: Es muss nicht mehr eine komplette Nation ihre sämtlichen Anstrengungen über Jahre daraufhin ausrichten, ein Waffenarsenal aufzubauen, welches ihre Feinde vollständig vernichten kann. Die Sarin-Angriffe auf die Tokyoter Metro in den 90ern haben demonstriert, wozu eine kleine, hochmotivierte Gruppe von Akteuren, die unserer Gesellschaft den Krieg erklärt haben, mit Hilfe biologischer Kampfstoffe in der Lage sein kann. Der Ökonom Richard Posner beschreibt das Worst-Case-Szenario, in dem Terroristen eine unheilbare, nicht impfbare und absolut tödliche Variante  des Pocken-Virus entwickeln. In weniger als einem Monat könnten 100 Millionen Menschen infiziert sein, darunter nahezu alle medizinischen Ersthelfer. Eine Quarantäne kann nicht durchgesetzt werden und bevor ein Gegenmittel gefunden wird, ist der wesentliche Teil der Menschheit tot.

Kann man in diesem Fall überhaupt noch von Krieg sprechen? Ich weiß es nicht. 

Doch so vieles ist in dieser seltsamen Gegenwart und in der mit Sicherheit noch seltsameren Zukunft nur noch vage mit der Vergangenheit vergleich- und in ihren Begriffen erfassbar. Ausgehend von unserer grauen Vorzeit sind wir weit gekommen, doch alles, was wir erreicht haben, ist ungemein zerbrechlich und im Angesicht unserer nie dagewesenen und stetig wachsenden Macht von Tag zu Tag mehr bedroht durch den Abgrund der Vernichtung, in den wir zu stürzen drohen. 27 251 Tage ohne Krieg sind eine lange Zeit für einen Menschen, doch ein Wimpernschlag in der Geschichte unserer Art und kaum wahrnehmbar vor dem zeitlichen Horizont unserer potentiellen Zukunft. Es ist unsere Verantwortung als Menschen dafür zu sorgen, dass diese Kette nicht unterbrochen wird. 

Krieg war immer schon da. 

Doch sollten wir nicht die Naivität besitzen, zu glauben, dass dies zwangsläufig immer so sein wird. 

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