Die Kunst des Überlebens

Musik, Tanz und Gesang als evolutionärer Vorteil

Überleben in der Frühzeit der Menschheit

Schauen wir uns den Menschen einmal näher an, dann scheint er auf den ersten Blick ein seltsames Ergebnis der Evolution zu sein. Während sich andere Tiere vor Raubtieren schützen, in dem sie sich verstecken, fliehen oder aber sich zu verteidigen versuchen, sind die Talente des Menschen in diesen Bereichen vergleichsweise bemitleidenswert ausgeprägt.

Während unsere aufrechte Haltung uns möglicherweise half, Feinde zu erspähen, so machte sie uns auch zu einer leicht erkennbaren Beute in der Savanne. Während andere Wesen, die unauffällig bleiben wollen, möglichst leise sind, neigen Menschen dazu, mit lauten Geräuschen zu kommunizieren. Tatsächlich sind Menschen das einzige Tier, das singt, aber nicht in der Lage ist, davon zu fliegen.
Auch im Davonlaufen sind Menschen nicht unbedingt gut aufstellt. Während wir erstaunliche Marathonläufer sind, so sind unsere Sprint-Geschwindigkeiten viel zu niedrig, um einem Raubtier zu entkommen. Gazellen und Löwen erreichen 50-55 km/h, der schnellste Mensch der Welt bringt es gerade einmal auf 38 km/h. Das liegt daran, dass wir auf zwei Beinen gehen – eine evolutionäre Entwicklung, die das Menschsein auf seine Bahnen gelenkt hat, uns aber auch deutlich langsamer gemacht hat. Selbst die auf den ersten Blick wenig eleganten Schimpansen sind deutlich schneller als wir.
In punkto körperliche Stärke bleiben wir weit hinter unseren nächsten Verwandten zurück. Seit dem die Vorfahren der Menschen die relative Sicherheit der Bäume verließen und auf dem Boden lebten, wurden ihre Eckzähne immer kleiner und weniger gefährlich, und auch von Krallen, Hörnern und Stacheln ist keine Spur beim Menschen zu sehen.

Unsere Verteidigungsmechanismen haben entweder nie existiert, oder sie sind durch die Entwicklung zum modernen Menschen hin zurückgebildet worden, bis wir schließlich unsere heutige, eigentlich erstaunlich verletztliche und schutzlose Gestalt angenommen haben. Was könnte die Erklärung für diese seltsame Entwicklung sein?

Eine mögliche Lösung des Rätsels ist die Folgende: Menschen benutzen keine der typischen Abwehrstrategien gegen Feinde. Stattdessen verteidigen sie sich mit Gesang, Tanz und Musik.

Der Nutzen von Musik und Gesang

Betrachtet man andere Spezies, so lassen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen, was den Einsatz von lauten Geräuschen angeht. Viele soziale Tiere brechen in lautstarke Vokalisierung aus, wenn sie eine andere Gruppe oder ein Raubtier entdecken. Viele Tiere stoßen warnende Geräusche aus und versuchen, so groß und eindrucksvoll wie möglich zu erscheinen, um Feine abzuschrecken. Schimpansen und Gorillas brüllen, stampfen auf den Boden und trommeln. Aber im Gegensatz zu Menschen sind diese Tiere die meiste Zeit über relativ still, während Menschen fast permanent Geräusche von sich geben.

Möglicherweise haben wir eine neue Verteidigungsstrategie entwickelt. Wir benutzen Geräusche und eine selbstbewusste Haltung, um Feinde abzuschrecken. Diese Technik haben Menschen wesentlich stärker perfektioniert als andere Tiere. Wir organisieren uns in der Gruppe, in dem wir gemeinschaftlich singen und einen gemeinsamen Rhythmus einhalten, was unsere Gesänge deutlich lauter und eindrucksvoller klingen lässt. Dies zeigt nicht nur nach außen, dass wir eine starke, geeinte Gruppe sind, sondern stärkt auch die Bande innerhalb des Stammes.

Die psychologische Wirkung von Musik

Es gibt zahlreiche Beispiele für die erstaunliche Wirkung, die Musik auf den Kampfgeist und die Moral von Menschen haben kann.

Als das mächtige Russland im Kaukasuskrieg versuchte, die letzten verbleibenden Kämpfer der Bergvölker Dagestans zu unterwerfen, stießen sie auf erbitterten Widerstand der Kämpfer um den religiös-politischen Führer Imam Shamil. Nach der 80-tätigen Belagerung der Bergfestung Akhoulgo wurden die daghestanischen Kämpfer überrannt, und da keine Seite Gefangene machte, war ihr Untergang gewisse. In diesem Moment begann Shamil zu singen und zu tanzen. Seine Männer schlossen sich ihm an, und sie tanzten schneller und schneller, bis sie schließlich unter wilden Kampfschreien hinausstürmten und die Russen überranten. Einige weniger der Kämpfer, einschließlich Shamil selbst, konnten tatsächlich entkommen und kämpften noch viele weitere Jahre. Auch heute benutzen amerikanische Soldaten Rockmusik, um Mut für den Kampf zu schöpfen. Und auch wenn die meisten von uns nie in eine Schlacht ziehen mussten, so kennen doch viele von uns das erhebende Gefühl, bei einem großen Konzert in einer Menge von Gleichgesinnten aufzugehen.

Die Musik hilft Menschen dabei, Vertrauen und Einheit zu empfinden und eine kollektive Identität zu schaffen. Ein durch Musik induzierter, tranceartiger Zustand reduziert Gefühle von Angst und Schmerz. Unser Bedürfnis, das eigene Leben zu schützen, nimmt ab, und alle Mitglieder der Gruppe fühlen sich stärker, mutiger, geradezu unbesiegbar. Dieser emotionale Zustand wird durch neurologische Substancen wie Endorphin und Oxytocin ausgelöst, die unsere Wahrnehmung von Schmerz und Angst unterdrücken und das Gefühl von Vertrauen und Gemeinschaftsidentität stärken. Dieser Mechanismus könnte einen entscheidenen Beitrag dazu geleistet haben, dass Menschen sich gegen übermächtige Feinde zu Wehr sezten konnten. Natürlich können unsere Vorfahren nicht im Angesicht eines angreifenden Löwen beginnen zu singen und zu tanzen – dafür mangelt es an Zeit. Doch es gibt andere Überlebenssituationen, in denen ein Ritual durchgeführt werden konnte, das uns den Mut und die Einheit gab, die wir brauchte.

Konzerte in der Dunkelheit

Eine der größten Gefahren für unsere Vorfahren lag in der Dunkelheit der Nacht. Menschen können nicht gut im Dunkeln sehen, und viele ihrer Feinde jagen in der Dämmerung. Eine Möglichkeit, wie Menschen ihr Nachtlager geschützt haben könnten, ist das abendliche ‘Konzert’: lautes, vielleicht stunden andauerndes gemeinschaftliches Singen und Tanzen, das mögliche Jäger vertrieben haben könnte. Die meisten Menschen verbinden auch heute noch die Angst vor der Dunkelheit mit der Stille und der ungewissen Gefahr, die dort draußen lauert. Laute Musik vertreibt diese Angst und sorgt dafür, dass wir uns stark in der Gemeinschaft fühlen.

Konfrontation mit einem Löwen

Viele Raubtiere jagen ihre Beute nicht selbst, sondern machen stattdessen anderen Kängern die bereits erlegte Beute streitig. Geparden erlegen zwar die meisten Tiere in der afrikanischen Savanne (mit sieben von zehn erfolgreichen Jagden), doch sie verlieren ihre Beute häufig an Löwen, die jede Gelegenheit nutzen, um Fleisch anderer Jäger zu ergattern und sich die kräftezehrende Jagd zu sparen. Vieles deutet darauf hin, dass die frühen Menschen die gleiche Strategie verfolgten.
Doch um beispielsweise einem Löwen gegenüber zu treten, der sich gerade an einer Gazelle gütlich tut, muss man eine ganze Menge Selbstvertrauen besitzen. Das ist der Grund, warum sich unsere Vorfahren einem fressenden Löwenrudel in einer großen Gruppe näherten und begannen, laut zu schreien, zu singen, zu stampfen, Steine zu werfen und zu trommeln. Für ein derart gefährliches und selbstmörderisches Unterfangen ist die Musik von großer Bedeutung, denn sie gibt den Menschen einerseits den Mut, sich einem Löwen zu stellen, und lässt sie gleichzeitig gefährlicher erscheinen.

Ein eindrucksvoller Anblick

Alle evolutionären Veränderungen, die wir durchgemacht haben, erscheinen unter diesem Blickwinkel in einem neuen Licht. Dass unsere Körpergröße zugenommen hat, während unsere tatsächliche Stärke geringer wurde, ergibt Sinn, wenn die primäre Strategie darauf beruht, möglichst eindrucksvoll zu erscheinen. Außerdem sorgte die geringere tatsächliche Kraft dafür, dass Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe seltener tödlich endeten.
Während Menschen das Fell an fast ihrem gesamten Körper verloren, blieb es an ihrem Kopf erhalten. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass unsere Vorfahren vermutlich langes, ungeschnittenes Haar besaßen, dass in seiner Struktur am ehesten einem ‘Afro’-Haarschnitt gleichkam und damit den Kopf viel größer erscheinen ließ, als er eigentlich ist, ganz genau so wie es die Mähne bei Löwen (aus dem gleichen Grund) tut.
Körperbemalungen wurden vermutlich ebenfalls von unseren Vorfahren eingesetzt, sind sie doch unter fast allen indigenen Völkern verbreitet. Besonders berühmt sind sogenannte ‘Kriegsbemalungen’, die vor Kämpfen aufgetragen werden, um den Gegner einzuschüchtern und zu verwirren, und auch als psychologischer Trick, um den Krieger selbst in eine kampfbereite Stimmung zu versetzen und dafür zu sorgen, dass er seinen Gefährten ähnlich wurde.
Die Rückbildung unserer Schneidezähne begann schon lange vor der Nutzung des Feuers und kann daher nicht nur durch die Veränderungen in unserer Nahrung ausgelöst sein. Jedoch ermöglichte diese morphologische Veränderung eine besser Artikulation, die schließlich zur Entwicklung der Sprache führte.
Auch die Angewohnheit der menschliche Spezies, harmonisch in Gemeinschaft zu singen, entstand nicht ohne Grund. Im Gegensatz zu vielen anderen Tieren singen bei den Menschen beide Geschlechter, und wir haben ein feines Gehör für Harmonien, das es uns ermöglicht, unseren Gesang aufeinander abzustimmen. Tatsächlich können wir beobachten, dass Menschen Musik fast immer am liebsten in Gruppen machen. Dies ermöglich ein deutlich eindrucksvolleres Ergebnis.

Insgesamt haben wir also aufrecht gehende, rythmisch singende, stampfende, wild bemalte und steinewerfende Menschen, die es mit einer an Selbstaufopferung grenzenden Kühnheit wagten, Löwen zu konfrontieren. Und sie hatten Erfolg: Löwen begannen, diese ‘Kamikaze’-Krieger zu vermeiden, und den Menschen gelang es, die Beute der Löwen zu stehlen.

In den folgenden Kapiteln der menschlichen Entwicklungsgeschichte folgten die Meschen stets den Löwen. Beide Spezies verließen Afrika etwa zur gleichen Zeit, vor ungefähr 2 Millionen Jahren. Beide waren die am weitesten verbreiteten großen Landsäugetiere während des späten Pleistozäns (vor 100.000 bis 10.000 Jahren), deren Verbreitungsgebiete sich größtenteils überschnitten. Das heißt, dass während eines Zeitraums von mehreren Millionen Jahren die Hauptstrategie der Menschen darin bestand, Löwen von ihrer Beute zu verjagen – Millionen von Jahren, in denen Musik und Kampfsituationen untrennbar verbunden waren. Noch heute spüren wir die Nachwirkungen davon, wenn wir uns von treibender Musik mitreißen und motivieren lassen.

Die ältesten Formen der Musik

Auch wenn alle Vermutungen über die frühesten Formen der Musik spekulativ sind, können wir doch einige Gemeinsamkeiten der ältesten Gesänge in verschiedenen Kulturen der Welt beobachten. Vermutlich waren die ersten Gesänge laut, rhythmisch und begleitet von Stampfen und Klatschen. Möglicherweise handelte es sich um polyphone Gesänge, deren Tempo und Tonlage während des Gesangs anstieg. Texte waren aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht vorhanden oder zumindest nicht sehr komplex, sondern bestanden eher aus einfachen, wiederholten Formeln. Einige Beispiele solcher urtümlicher Stile klingen etwa so:

Gesänge der Baka (Pygmäen-Volk in Kamerun in Zentralafrika)

Bulgarische Gesänge

Traditionelle indonesische und polynesische Gesänge

Gesänge der Ainu (Japanische Ureinwohner)

Traditionelle Gesänge aus dem Amazonasgebiet

Gesänge der Maori (Neuseeland)

Musik symbolisiert Sicherheit

Neben der wilden und treibenden Kampfmusik kennen Menschen auch andere Formen der Musik: ruhige, emotionale, entspannende Melodien. Alle Menschen können summen, und häufig tun wir dies ganz gedankenlos nebenbei, wenn wir einer anderen Tätigkeit nachgehen. Wir tun das allerdings nur, wenn wir uns einigermaßen sicher und entspannt fühlen. Das Summen oder leise Singen zeigt anderen, dass wir in guter Stimmung sind und dass alles sicher ist. Es ist nicht nötig, nach Gefahren zu lauschen, denn alles ist sicher. Auch andere Tiere benutzen regelmäßige Kontaktgeräusche, um ihren Verwandten und Gruppenmitgliedern zu signalisieren, dass alles in Ordnung ist. Hühner gackern, Vögel zwitschern, Affen schreien, Kühe muhen (und ein beliebiges Kinderbuch liefert sicher viele weitere Beispiele). Für soziale Spezies ist das Ausbleiben dieser Geräusche ein Zeichen von Gefahr – nicht umsonst heißt es ‘Totenstille’. Menschen haben zweifellos schon seit Urzeiten ihre alltäglichen Handlungen mit leisem Summen und Singen begleitet und dadurch die Gewissheit von Sicherheit auf ihre Gefährten übertragen. Das zeigt sich auch heute noch darin, dass wir uns entspannter fühlen, wenn wir im Hintergrund Musik wahrnehmen, sei es das Radio beim Autofahren, Musik beim Lesen oder Hintergrundbeschallung beim Parties. Musik reduziert das Gefühl von Einsamkeit und die meisten Menschen fühlen sich wohler, wenn sie von Musik umgeben sind.

Fazit

Die Evolution hat die Menschen also nicht ohne Grund zu guten Sängern gemacht. Musik und Gesang half uns, Raubtiere fern zu halten, uns gegenüber Löwen durchzusetzen und sogar ihre Beute zu stehlen, und auch die sozialen Bande innerhalb der Gruppe zu stärken. Musik stärkt uns in lebensbedrohlichen Kampfsituationen, aber begleitet uns auch in Zeiten der Ruhe und Entspannung. Sie ist ein Mittel der Kommunikation und der psychischen Stärkung. Und fast jeder von uns hat sicher einen Vorfahren, dem die Musik auf die eine oder andere Weise das Leben gerettet hat.

Dieser Text basiert auf dem Essay “Times to Fight: Music and War” von Joseph Jordania, veröffentlicht als “Why do people sing” in Music in Human Evolution (2011).

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