Hoffnung und Wahrheit

Wir sind hier beisammen, um gemeinsam eine Feier zu zelebrieren, die uns verbindet und uns an etwas Größeres bindet. Ein Ritual zu erschaffen, das etwas Tieferes für uns bedeutet, und zugleich mit offenen Augen in die Realität zu blicken. An etwas zu glauben, ohne dem Aberglauben zu verfallen.

Das ist, gelinde gesagt, gar nicht so einfach. 

In gewisser Hinsicht haben religiöse Menschen es leichter. In vielen Gemeinschaften gibt oder gab es Schamanen, Weise Frauen, Priester oder Mentoren, die den Menschen Hoffnung spenden. Wenn die Welt dunkel und grausam ist, können sie den Menschen einen Ausweg aufzeigen. Erklären, wie alles einem höheren Sinn folgt. Wie die Gerechtigkeit am Ende siegen wird und die Bösen bestraft werden. Dass auf die Guten das Paradies wartet, oder vielleicht auch eine metaphysische Vereinigung mit der Natur. Dass niemand je verloren ist, und wir alle ins Licht gehen. 

Es scheint beinahe beneidenswert, an diese Dinge glauben zu können. Ich wünschte manchmal, sie wären wahr. Dann wäre ich gern ein Priester, der Menschen Trost und Hoffnung spendet. Das wäre wundervoll.

Aber das kann ich nicht. Weil ich nicht an Märchen glauben kann, wenn ich weiß, dass sie nicht wahr sind. Das ist ein Luxus, den ich mir nicht erlaube. Wir verpflichten uns dem Prinzip, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Wir verweigern uns der tröstlichen Legenden, die uns einhüllen und von der kalten Realität abschirmen könnten. Und das kann verdammt hart sein.

Wie sollen wir uns Trost und Hoffnung spenden, ohne zu lügen?

Den wenn wir ehrlich sind, ist die Welt dort draußen – und manchmal sogar hier drinnen – grausam und ungerecht. Es war für mich ein schwieriges Jahr, und ich habe mit einigen Sorgen zu kämpfen. Manche davon sind sehr persönlich und berühren meine ganz eigenen Schwächen und Ängste. Andere umfassen das Ende von allem, das uns etwas bedeutet, der gesamten Menschheit. Und jeder hier hat seine eigenen Gründe, Angst zu haben. Seine eigenen Bürden und Probleme.

Die Welt ist in vieler Hinsicht nicht in Ordnung, ganz im Gegenteil. Sie ist erfüllt von Bedrohungen, und es gibt keine Gnade, keine zweiten Versuche, kein Sicherheitsnetz. 

Menschen und Tiere erdulden unerträgliches Leid. Dinge, die einst gut und richtig waren, zerfallen und vergehen. Existenzielle Katastrophen drohen am Horizont.

Und im Angesicht von all dem sind es vielleicht die Menschen, die einander die größten Feinde sind. Unsere Psyche ist anfällig dafür, auf Abwege zu geraten, gerade in einer Welt voller moloch-artiger Strukturen, die viel größer sind als wir. Wir verfallen allzu leicht dem selbstgerechtem Eigennutz, oder nagenden Zweifeln, oder dem verzweifelten Schrei nach Gerechtigkeit. Wir ergeben uns bodenlosem Fatalismus, oder wir zerfleischen einander im blinden Kampf gegen unsere Feinde.

Unsere menschliche Natur ist nicht inhärent gut. 

Aber sie ist auch nicht inhärent böse. Sie ist einfach unsere Natur, so wie sie evolutionär entstanden ist. Mit all ihren Makeln und dem Schmerz, den sie verursachen. Vielleicht können wir irgendwann bessere Menschen werden, doch noch sind wir nicht soweit. Noch existierend Grausamkeit, Verrat, Betrug, Schmerz.

Mit dieser Wahrheit müssen wir umgehen. Genauso wie mit allen anderen Wahrheiten über die Gefahren der Welt, die uns umgibt.

Deswegen dürfen wir uns nicht den Luxus erlauben, die Augen zu verschließen. Das ist das Perfide an der Realität – sie verschwindet nicht, nur weil wir nicht hinschauen. Wir müssen die harte Wirklichkeit akzeptieren, damit wir überhaupt eine Chance haben, sie zu ändern. 

Warum tun wir uns das überhaupt an? Warum sehen wir hin, warum konfrontieren wir die Dunkelheit? Ein Zyniker könnte sagen, dass alles keinen Sinn hat. Warum sich also die Mühe machen?

Weil wir – offenbar – noch nicht aufgegeben haben. Wenn die Zukunft uns gleichgültig wäre, dann könnten wir die Augen verschließen. Wir könnten die Hände in den Schoß legen und mit den Schultern zucken.

Doch das tun wir nicht. Wir alle hier machen weiter, mit der Kraft, die wir haben, selbst wenn es nur ein kleiner Funke ist. Weil es uns nicht egal ist, wie es weitergeht. Weil wir Angst haben vor einem schlechten Ende. Und Hoffnung auf ein gutes Ende. Das zeigt uns, dass uns all das noch etwas bedeutet.

Ich kann keine Hoffnung aus Nichts heraus spenden. Ich kann nicht von der Vereinigung der Seelen im Leben nach dem Tod sprechen, oder von dem großen Plan, in dem alles Leid einen Sinn hatte. Die einzige Hoffnung, die ich habe, liegt in der kleinen Chance, dem Potential, dass die Dinge besser werden. Der bloßen Möglichkeit einer besseren Zukunft.

Hoffnung ist notwendig, aber nicht hinreichend. Damit diese Zukunft irgendwann wahr werden kann, müssen wir wahr machen. Wenn wir nichts tun, wird sich nichts erfüllen, worauf wir hoffen. Wir müssen unsere Vision in die Wirklichkeit zwingen. Schritt für Schritt müssen wir die physische Realität um uns herum formen, unseren Willen durchsetzen und nicht nachlassen, bis sie logisch gar nicht anders kann, als besser zu sein. Es gibt kein Paradies, außer das, dass wir mit unseren eigenen Händen bauen. 

Und das ist verdammt schwer. Doch solange die Welt um uns herum noch voller Gefahr und Grausamkeit ist, solange wissen wir, dass wir noch nicht fertig sind.

Ich akzeptiere nichts Geringeres als ein gutes Ende. Und das heißt, dass unsere Geschichte noch etwas weitergehen muss. 

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