Das Ende der Kleinfamilie, die Wiedergeburt des Stammes

Der Text für die Sommersonnenwende 2020 beschäftigt sich mit dem Ende der traditionellen Kernfamilie und dem Erstarken neuer Modelle des Zusammenlebens, die schon viel älter sind als man vielleicht denken könnte. Der Text ist inspiriert von The Nuclear Family Was A Mistake, das Thema wurde allerdings erweitert und aus einer weniger US-amerikanischen Perspektive betrachtet.

Wenn wir an Familien denken, dann kommt uns im Allgemeinen das Bild von Mutter, Vater und ein bis drei Kindern in den Sinn, die gemeinsam am Tisch sitzen, den Spielplatz besuchen oder abends fernsehen. Sie wohnen in einer Wohnung oder vielleicht einem kleinen Haus, dem Zentrum ihres privaten Lebens, und am Wochenende gehen alle zum Kaffeetrinken zu den Großeltern. Der Vater arbeitet meist Vollzeit, die Mutter zwar manchmal auch, manchmal ist sie aber auch in Teilzeit, oder sie ist Hausfrau und kümmert sich um die Kinder. Eine Katze, ein Hund oder ein Meerschweinchen runden das Familienidyll ab.

Dieses Bild der Kleinfamilie entspricht zwar einem weit verbreiteten Klischee, doch ist dies weder eine typische noch eine besonders alte Form des menschlichen Zusammenlebens. Im Gegenteil: Die Kleinfamilie ist ein äußerst fragiles Konstrukt.

Ein Clan aus Wahlverwandten

Zunächst ein Blick zurück: Über weite Teile der Vergangenheit lebten Menschen in größeren Haushalten. Am Anfang waren das kleine Stämme, die gemeinsam nach Nahrung suchten und sich zu einem Clan zusammenschlossen. Sie jagten zusammen, stellten Kleidung und Werkzeuge füreinander her, bewachten gemeinsam ihre Kinder. Folgt man den Spuren früher Gesellschaften bis zu den Völkern, die heute noch Erinnerungen an eine urtümliche Lebensweise haben, so stößt man auf verschiedene Definitionen von „Verwandschaft“. Die Ilongot auf den Philippinen definieren Verwandte als die Menschen, mit denen man gemeinsam in eine neue Heimat wandert. Für die Neuguineer des Nebilyer-Tals entsteht Verwandtschaft durch das Teilen der Lebenskraft, die in Muttermilch oder Süßkartoffeln zu finden ist. Das chuukesische Volk in Mikronesien besitzt ein Sprichwort: „Mein Geschwister aus demselben Kanu“ – wenn zwei Menschen eine gefährliche Prüfung auf See überleben, werden sie verwandt. Die Inupiat Alaskas geben ihren Kindern die Namen von Verstorbenen, und die Kinder gelten als Teil von dessen Familie. Die Bedeutung von Verwandschaft ist also vielfältig und keineswegs nur auf direkte Blutsverwandschaft beschränkt. Wie Gräber und andere Ausgrabungsstätten zeigen, lebten die frühen Jäger und Sammler zahlreicher Kulturen in Stammesgruppen und Dörfern, in denen nur wenige Mitglieder direkte Blutsverwandte waren. Dennoch bestanden enge familiäre Bande zwischen diesen nicht Freunden und Stammesgeschwistern.

Und es kann nicht allzu schlecht gewesen sein. Als im 17. und 18. Jahrhundert europäische Protestanten nach Nordamerika kamen, kamen sie in Kontakt mit den dort lebenden Ureinwohnern. In vielen Fällen wurden Native Americans gefangen genommen und gezwungen, mit den Europäern zu leben. Einige Europäer erlebten das umgekehrte Schicksal, doch erstaunlicherweise blieben sie häufig aus freien Stücken. Das Leben im Stamm muss ihnen mehr zugesagt haben, als es die Europäer erwartet hatten.

Doch natürlich ist das Dasein in einer Stammeskultur nicht vereinbar mit den Anforderungen der heutigen Lebenswelt. Das Leben im Stamm verlangt von seinen Mitgliedern, große Teile der persönlichen Freiheit und der Privatsphäre aufzugeben. Und die moderne Gesellschaft funktioniert nicht auf Basis von Stämmen und Clans.

Die Ära der Großfamilien

Um das Jahr 1800 herum lebten viele Menschen in großen Familien, die größtenteils auf Blutsverwandschaft aufgebaut waren. Die Mehrheit der einfachen Leute waren Bauern, die auf ihren Höfen die ganze Familie beschäftigten. Die anderen arbeiteten in kleinen Läden oder Handwerksbetrieben, die ebenfalls Familiensache waren. Viele alte Menschen lebten mit ihren Kindern und Enkeln zusammen. Entscheidungen wurden von Familienoberhäuptern getroffen und der Weg der Nachkommen war häufig vorgezeichnet.

Die Familienclans, die sich daraus bildeten, formten ein starkes soziales Netz. Es war nicht ungewöhnlich, dass entferntere Verwandte sich an der Erziehung der Kinder beteiligten oder einsprangen, wenn Eltern krank oder arbeitsunfähig wurden. Wenn sich alle Familienmitglieder zu einer Feierlichkeit zusammenfanden, mussten gleich mehrere zusätzliche Tische herangeschafft werden. Diese Großfamilien waren außerordentlich stabil. Sie widerstanden Krisen durch gemeinschaftliche Anstrengung. Wenn ein Vater seine Arbeit verlor, gab es Onkel und Brüder, die zur Stelle waren. Wenn ein Elternteil sich von seinem Kind entfremdete, konnte ein anderer Erwachsener die Rolle übernehmen. Wenn ein Kind krank wurde, konnten Großeltern, Tanten und andere Verwandte den ganzen Tag damit verbringen, es zu pflegen.

Die Großfamilien vermittelten auch starke Werte. Eine ganze Reihe von Erwachsenen teilte sich die Aufgabe, den Kindern die richtigen Normen und Verhaltensweisen beizubringen. Damit stabilisierten sie die Gesellschaft, aber sie legten dem Individuum auch starke Zwänge auf.

Die Geburt der Kleinfamilie

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden immer mehr große Fabriken. Junge Menschen strebten mehr und mehr nach persönlicher Freiheit. Sie heirateten früher als es bis dahin üblich war, zogen mit ihren Partnern in ihre eigenen Wohnungen, und gründeten die ersten „Kleinfamilien“. Ab etwa 1920 wurde es in den USA zunehmend üblich, dass der Vater als einziger Erwerbstätiger den Familienunterhalt bestritt – die Zeit von Farmen und Familienunternehmen war vorbei. Die kurze ‚Glanzzeit‘ der Kleinfamilie begann in den 50ern. Für einen kurzen Moment lebten 77.5% aller Kinder in den USA mit ihren beiden biologischen, verheirateten Elternteilen zusammen, und nicht mit einer Großfamilie. In Deutschland waren zu dieser Zeit nur etwa 44% der Frauen erwerbstätig. 1950-1960 war in Deutschland, besonders in Westdeutschland, die Quote der unehelich geborenen Kinder historisch niedrig bei unter 10%. Nicht ohne Grund wurde 1958 das Ehegattensplitting eingeführt, dass das Modell des Einverdienerhaushalts begünstigt.

Und für einen kurzen Moment in der Geschichte funktionierte es. In den kleinen Häuschen in den Vorstädten bildete sich das Klischee der Familie heraus, in dem die glückliche Hausfrau Kekse für die 2.5 Kinder backt, die im Vorgarten spielen. In den USA war dieses Phänomen noch stärker ausgeprägt als in Deutschland. Viele Firmen weigerten sich, verheiratete Frauen zu beschäftigen, die deswegen zwangsläufig Hausfrauen werden mussten. Das starke Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit (in Deutschland als „Wirtschaftswunder“ der 50er und 60er Jahre bekannt) ermöglichte es, dass ein Mann allein eine fünfköpfige Familie ernähren konnte. Dazu kam, dass viele Kleinfamilien durch Nachbarschaftsverhältnisse eigentlich eine Art Ersatz-Großfamilie bildeten, in der gemeinsam im Vorgarten gegrillt, in die Kirche gegangen und auf den Verandas zusammengesessen wurde. Doch die Umstände, die diese Form der Kleinfamilie ermöglichten, konnten nicht ewig aufrechterhalten werden.

und ihr Ende

Ab Mitte der 1970er begannen die Löhne für junge Familienväter zu sinken. Der Einfluss der Kirche als moralische Institution in den USA nahm ab. In Deutschland begann die Frauenerwerbsquote stark und dauerhaft anzusteigen. Die Gesellschaft wurde individualistischer und emanzipierter. Frauen waren nicht mehr einverstanden mit ihrer Rolle als Hausfrau – doch ohne diese war das ‚Idyll‘ der Kleinfamilie nicht aufrecht zu erhalten. Ihr Rückgang war unvermeidlich, und er hält bis heute an.

Haushalte werden kleiner. Einige Statistiken für die USA: Im Jahr 1970 bestanden etwa 20% der Haushalte aus fünf oder mehr Personen, heute sind es nur noch 9.6%. Der Anteil der Haushalte, in denen ein Erwachsener allein lebt, hat sich zwischen 1960 und 2018 verdoppelt. Ehen und Partnerschaften gehen zurück. 1950 endeten 27% aller Ehen in Scheidungen, jetzt sind es 45%. 1960 waren 72% aller US-Amerikaner verheiratet, heute sind knapp die Hälfte single. Zwischen 2004 und 2018 stieg die Rate von jungen Erwachsenen (18-34), die ohne Partner leben, von 33% auf 51%.
Es gibt weniger Kinder. Die Geburtenrate hat sich seit 1960 halbiert. Im Jahr 2012 gibt es mehr Haushalte ohne als mit Kindern, und mehr Haushalte mit Haustieren als mit Kindern. Nach dem unvermeidlichen Zusammenbruch der Kleinfamilie wurde sie durch noch kleinere, instabilere Formen der Familie ersetzt. 1960 wurden gerade einmal 5% Kinder von unheirateten Müttern geboren, heute sind es 40%. Im Jahr 1960 lebten 11% der Kinder ohne Vater, heute sind es 27%. In den USA wachsen mehr Kinder mit nur einem Elternteil auf als in jedem anderen Land der Welt.

In Deutschland ist die Entwicklung nicht ganz so dramatisch, doch sie verläuft in eine ähnliche Richtung. Auch hier sinken die Geburtenraten (von ca. 2.5 im Jahr 1960 auf 1.5 im Jahr 2015) und die Haushalte werden immer kleiner, während die Zahl der Einpersonenhaushalte wächst. Es gibt immer weniger Familien mit vielen Kindern. Auf der anderen Seite ist bei jeder 16. Geburt in Deutschland der Vater unbekannt. In Berlin wachsen mehr als die Hälfte der Kinder heute nicht in einer klassischen Kleinfamilie auf (und auch nicht in einer traditionellen Großfamilie), sondern bei einer alleinerziehenden Mutter oder in einer anderen Form des Zusammenlebens.

Fragile Familien und alleinerziehende Eltern

Natürlich gibt es viele Beispiele von glücklichen Kindern, die von nur einem Elternteil aufgezogen werden. Aber für viele alleinerziehende Eltern ist das Leben hart. Theoretisch haben größere Freiheit der Geschlechter und mehr Gleichstellung als in den 50ern, doch in der Praxis sind es noch immer die Frauen, die einen großen Teil der Erziehungsarbeit und Fürsorge für Kinder übernehmen, wie sie es schon zu Zeiten der Großfamilien taten. Der große Unterschied ist, dass heutige alleinerziehende Mütter diese Arbeit ganz allein leisten, während sie gleichzeitig auch noch in Vollzeit arbeiten müssen. Jede unvorhergesehene Schwierigkeit wie beispielsweise Krankheit stellt eine große Bedrohung dar, da die Last nicht auf mehrere Schultern verteilt werden kann.

Natürlich ist diese Situation auch für Kinder schwierig. Im Durchschnitt haben Kinder von alleinerziehenden Eltern schlechtere Noten, mehr Verhaltensauffälligkeiten, sie haben mehr Gesundheitsprobleme, weniger Bildungserfolg, und sie geraten häufiger in Konflikt mit dem Gesetz. Häufig wechselnde Partner des einen stabilen Elternteils sorgen für zusätzlichen Stress für die Kinder.

Alleinerziehende Mütter und ihre Kinder leiden unter großem Stress, aber die Situation produziert auch einsame Männer, die die ersten 20 Jahre ihres Lebens ohne einen Vater und die nächsten 15 Jahre ohne eine Partnerin verbringen, und als Folge dieser Einsamkeit weniger gesund leben, sich stärker Drogen- und Alkoholkonsum zuwenden, und im Durchschnitt früher sterben als Männer in stabilen Beziehungen.

Und auch der alten Generation geht es nicht besonders gut: 35% der Amerikaner über 45 Jahre sagen, dass sie chronisch einsam sind, und viele alte Menschen haben keine Familie oder Freunde, die sich um sie kümmern. Auch in Deutschland ist die sogenannte „Einsamkeitsquote“ bei den 45- bis 84-Jährigen von 2011 bis 2017 um rund 15 Prozent gewachsen.

Ungleichheit der Geschlechter

Zwar ist das heute vorherrschende Ideal für das Leben einer Frau das der Freiheit, in der sie Beruf, Kinder oder, im besten Fall, beides zugleich wählen kann, und diese Freiheit hat Frauen enorm voran gebracht.

Doch in der Praxis zeigt sich, dass es vor allem für Frauen in anspruchsvollen Karrieren nicht einfach ist, diese Karriere mit ihrem Familienleben zu verbinden. Jede vierte Akademikerin in Deutschland bleibt kinderlos, Job und Mutterschaft stehen immer noch in vielen Situationen in Konflikt. Wesentlich weniger Männer als Frauen sind bereit, als „Hausmann“ den Haushalt und die Kinder zu versorgen, sie gehen viel seltener in Teilzeit, und diese Rolle ist auch noch immer mit einem sozialen Stigma versehen. Wenn aber beide Eltern stark in ihren Beruf investieren wollen, ist es schwer, zugleich für Kinder da zu sein, wenn keine erweiterten Beziehungs- und Verwandschafsnetze existieren, um die Familie zu unterstützen.

Flexibilität und Familie im Widerspruch

Gerade für qualifizierte junge Menschen verlangt der moderne Arbeitsmarkt eine große Flexibilität. Nicht nur müssen sie meist ihren Geburtsort verlassen, um überhaupt eine spezialisierte höhere Bildung an Universitäten und Fachhochschulen zu erhalten – häufig wird auch danach weiter von ihnen erwartet, ihren Wohnort an die Situation auf dem Arbeitsmarkt anzupassen. Das ist für alleinstehende Menschen leichter als für größere Familien.

Ein Extrembeispiel ist die Spitze der akademischen Welt, in der ein junger Mensch erst promoviert, dann idealerweise an einem anderen Standort seinen Post-Doc absolviert und dann an mehreren verschiedenen Universitäten oder Hochschulen lehrt, ehe eine feste Professur (vielleicht) in Aussicht steht. Es ist typisch, dass ein Mensch in einer solchen Karriere erst mit 40 an einem Lebensmittelpunkt angekommen ist, der für mehr als drei oder vier Jahre stabil bleibt. Enge Kontakte zu Nachbarn, Freunden und eine stabile Umgebung für ein Kind sind Aspekte, die für eine solche akademische Karriere geopfert werden müssen.

Natürlich gibt es auch junge Menschen, die sich umgekehrt entscheiden, die der Familie den Vorrang einräumen. Doch alleinerziehende Väter, freiwillig in Teilzeit arbeitende Mütter und alle anderen Beispiele haben eins gemeinsam: Sie sind nicht die gleichen Personen, die eine steile politische Karriere hinlegen. Ein Drittel der Abgeordneten im Deutschen Bundestag ist kinderlos, besonders die Mitglieder der Linken, Grünen und FDP haben wenige Kinder. Die kinderreichen Abgeordneten sind häufig Männer, denen eine Hausfrau den Rücken freihält, während Politikerinnen seltener diese Form der Unterstützung erfahren.

Unter den einflussreichsten Akademiker und Politiker sind (statistisch) weniger Menschen vertreten, die die Familie zum Mittelpunkt ihres Lebens machen und Beruf und Engagement dafür zurückstellen.

Aber wir können nicht so tun, als wäre es für alle Menschen wünschenswert oder auch nur realistisch, Vollzeitarbeit und Vollzeiterziehung gleichzeitig zu stemmen, im Extremfall sogar alleine ohne einen Partner. Kindererziehung und Haushalt verlangen Zeit und Mühe, ebenso wie Karrieren, und ohne irgendeine Form von gegenseitiger Unterstützung ist dies für viele Menschen schwer schaffbar.

Finanzielle Ungleichheit

Die Ideale der 50er mit ihren westdeutschen und us-amerikanischen Hausfrauen und in Zeiten des Wirtschaftswunders guten verdienen Vätern haben die klassische Kleinfamilie hervorgebracht und überhaupt möglich gemacht. Doch heute ist dieses Modell vor allem unter gebildeten und einigermaßen wohlhabenden Menschen verbreitet. Und nur weil es für sie recht gut funktioniert, heißt das nicht, dass es für alle so gut aussieht.

Zwar wachsen in Deutschland noch immer viel mehr Kinder mit beiden Elternteilen auf als in den USA. Aber auch hier zeichnet sich ein Bild der sozialen Ungleichheit ab.

Alleinerziehende sind statistisch wesentlich häufiger von Armut bedroht. Und ihre Armut wird häufiger an die Kinder weitergegeben. Während Kinder aus armen Familien mit zwei Elternteile eine 80%-ige Chance haben, selbst der Armut zu entkommen, liegt sie für Kinder, die nur von einem Elternteil in Armut aufgezogen werden, bei nur 50%.

Die Armutsgefährdungsquote für Haushalte, in denen zwei Erwachsene mit Kindern leben, liegt in Deutschland 2016 bei 11%, bei Alleinerziehenden-Haushalten jedoch bei 33%.

Während die Politik sich immer wieder darum bemüht, die Familie zu stärken und das Bild der glücklichen Kleinfamilie heraufbeschwört, leugnet sie oft, dass die reale Situation anders aussieht. Es gibt alleinerziehende Eltern, es gibt Familien mit wechselnden Vätern, es gibt Patchwork-Familien, Stiefeltern, Geschiedene mit neuen Partnern, Unverheiratete, Polyamore Familien, Großeltern-Familien und eine Menge andere Formen. Von Seiten des Gesetzgebers sind wir aber lange nicht so weit, auf diese Realität angemessen zu reagieren. Die Anerkennung anderer Familienformen wird sogar häufig mit dem Argument abgelehnt, dass diese die traditionelle Kleinfamilie schwächen würde.

Wenn wohlhabende Sozialkonversative das Bild der Kleinfamilie predigen, übersehen sie, dass nicht alle Menschen in Doppelverdienerfamilien leben und es für sozial und finanziell Benachteiligte viel schwerer ist, dieses Ideal zu erfüllen. Linke hingegen fokussieren sich größtenteils darauf, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Lebensform frei zu wählen – und sie haben grundsätzlich recht – doch in dem Versuch, nicht negativ zu urteilen, übersehen sie die negativen Konsequenzen, die der Stress der fragilen Familienformen mit sich bringt. Jede Ungleichheit ist auf eine gewisse Weise schmerzhaft, aber familiäre Ungleichheit ist besonders grausam.

Familien sind kleiner und fragiler geworden. Wir haben das Ideal der persönlichen Selbstverwirklichung für manche Menschen tatsächlich umsetzbar gemacht. Doch das ändert nichts an der grundsätzlichen Tatsache, dass die Erziehung von Kindern eine Aufgabe ist, die viel Mühe und Zeit verlangt und kaum von einer Einzelperson gestemmt werden kann. Wie soll diese Herausforderung gemeistert werden?

Wir verbannen Hausfrauen nicht mehr in die Küche, um alle Haushaltsarbeit zu erledigen. Wir haben auch die Großfamilien von früher aufgegeben, denn wir leben nicht mehr in lokal eng vernetzen Familienverbänden von Brüdern, Tanten, Cousins und Großvätern an einem Ort. Wir haben aus guten Gründen diese veralteten Formen des Zusammenlebens hinter uns gelassen, doch es stellt sich die Frage: Wer soll nun also die Unterstützung liefern, die Familien mit Kindern so dringend brauchen?

Die gute Nachricht ist, dass die Menschen sich den neuen Umständen anpassen. Wir entwickeln neue Formen des Miteinanders, und ein kultureller Wandel setzt ein, der zunächst subtil scheint.

Neue, alte Formen der Familie

Nicht lange nachdem die Kleinfamilie den Höhepunkt ihrer Bedeutung erreicht hatte, entstand als Folge der 68er-Bewegung das Konzept der Lebensgemeinschaft in sogenannten Kommunen, in denen gemeinschaftlich gewirtschaftet, zusammen gelebt und nach dem Konsensprinzip entschieden wurde. Diese Kommunen entwickelten durch ihre Aufgabenteilung früh eine relativ gleichberechtigte Aufteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern, und in den meisten wurden auch Kinder gemeinsam erzogen. Einige Kommunen bestehen auch heute noch, häufig geprägt von ökologischen und sozialistischen Idealen.

In den schwulen und lesbischen Communities der 1980er Jahre entstanden ebenfalls Wahlfamilien. Im Angesicht der Zurückweisung durch biologische Familien gewannen enge, familienartige Freundschaften in diesen Communities stärker an Bedeutung. Im Buch „Families we choose: Lesbians, Gays, Kinship“ schreibt die Anthropologin Kath Weston: „Like their heterosexual counterparts, most gay men and lesbians insisted that family members are people who are “there for you,” people you can count on emotionally and materially. “They take care of me,” said one man, “I take care of them.”“

Aber nicht nur linke oder politisch engagierte Menschen streben danach, ein stärkeres Netz von gegenseitiger Unterstützung zu erschaffen. Menschen finden praktische Lösungen im Alltag. In Bochum beispielsweise hat sich eine Gruppe alleinerziehender Mütter zusammengefunden, die sich nicht nur regelmäßig treffen und sich gegenseitig bei Problemen helfen, sondern sich als eine Familie verstehen, gemeinsam die Betreuung der Kinder organisieren und gemeinsam in den Urlaub fahren.

Das Prinzip der Wohngemeinschaft, der typischen studentischen Wohnform, erweitert sich heute mehr und mehr. Sogenannte Co-Housing-Projekte entstehen, in denen vor allem junge Menschen und Familien ein Haus oder eine Ansammlung von Wohnungen und Häusern teilen und dabei Gemeinschaftseinrichtungen wie Küchen, Kinderspielzimmer, Fitnessstudios, Speisezimmer, Bibliotheken oder Werkstätten gemeinsam nutzen. Durch die geteilten Ressourcen unterstützen sich die Familien gegenseitig und bauen enge soziale Bindungen auf. Geplante und konstruierte Cohousing-Siedlungen entstanden zuerst in Dänemark, breiten sich aber zunehmend aus.

Die Rationalitäts-Community, mit der sich auch viele junge Humanisten verbunden fühlen, hat eine ganze Reihe von „Group Houses“ hervorgebracht. In den USA verbreiten sich verschiedene Modelle von Co-Housing, bei denen sich mehrere vormals alleinerziehende Mütter gemeinschaftlich um ihre Kinder kümmern, oder Senioren mit jüngeren Menschen zusammen wohnen und sich mit ihnen die Aufgaben teilen. Viele dieser Strukturen haben auch ökonomische Vorteile, da Ressourcen sparsamer und nachhaltiger verwendet werden, wenn mehr Personen sich einen Haushalt teilen.

Julia Seeliger, Grünen-Politikerin, schrieb in der TAZ: „Meine WG ist meine Familie“. Sie beschreibt darin ihre einvernehmliche polyamore Beziehung und argumentiert, dass dieser Lebensentwurf und viele andere gleichberechtigt neben der traditionellen Kleinfamilie stehen sollten. Für sie ist der Familienvertrag ein Modell, in dem gegenseitige Verantwortung unabhängig von biologischer Verwandschaft übernommen werden kann.

All diese Gemeinschaften erinnern ein wenig an die Großfamilien von früher: Die Last (und Freude) der Kindererziehung wird auf mehrere Personen verteilt, es gibt ein Netz von Kontakten und gegenseitiger Hilfe sowie eine soziale Gemeinschaft, in der zusammen gekocht, geredet und gespielt wird. Aber zwei große Unterschiede bestehen: Erstens sind die Rollen der Geschlechter heute viel diverser und vielfältiger, sie erlauben es sowohl Frauen als auch Männern, Erwerbstätigkeit und/oder Haushaltsarbeit nachzugehen und die Aufgaben flexibel aufzuteilen. Und zweitens basieren die heutigen Wahlfamilien eher auf Freundschaften, nicht auf ausgedehnten Verwandschaftsbeziehungen. Das heißt, die Mitbewohner in diesen Gemeinschaften sind nicht verwandt, sondern frei gewählt, wie es auch in den Stämmen zu Beginn der Menschheit üblich war.

Die Zukunft der Familie

Die Zwei-Eltern-Familie wird zweifellos nicht aussterben. Für viele Menschen, besonders die gebildeten und relativ wohlhabenden, ist die Kleinfamilie eine stabile und gute Form des Lebens. Aber sie kann und wird in unserer modernen Gesellschaft nicht für alle Menschen funktionieren.

Deswegen muss es andere Formen des Zusammenlebens geben, die Einsamkeit und Fragilität zu bekämpfen und Menschen Rückhalt geben. Während Erwachsene sich darin gegenseitig unterstützen, ihre Ressourcen teilen und ein besseres Leben für alle ermöglichen können, ist der Gewinn an Stabilität und Fürsorge für Kinder vielleicht noch wichtiger, denn diese leiden am meisten unter Fragilität und unsicheren Verhältnissen. Neue Formen von stabilen Gemeinschaften entwickeln sich in Hausprojekten, Mütternetzwerken, Kommunen, Mehrgenerationenhäusern oder polyamoren Familien. Auf die eine oder andere Weise finden wir Wege, uns gegenseitig zu unterstützen, Kinder gemeinschaftlich zu erziehen und Schwierigkeiten gemeinsam zu bewältigen.

Wenn unsere Gesellschaft die Armut unter Kindern und die Benachteiligung von Kindern alleinerziehender Eltern reduzieren möchte, wenn wir dem Sinken der Geburtenrate und den geringen Kinderzahlen entgegen treten wollen, wenn wir Frauen eine realistische Möglichkeit geben wollen, (akademische) Karriere und Kinder zu vereinen, dann müssen wir solche Formen des Zusammenlebens anerkennen und unterstützen.

Referenzen

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