Herbst-Äquinoktium

Mit der Tag-und-Nacht-Gleiche am 22. September beginnt eine dunkle Zeit. Die Nächte werden länger, Schatten kriechen empor und herbstlicher Nebel zieht auf.

Aufgeklärte Humanisten und Skeptiker fürchten sich weder vor der Finsternis noch vor abergläubischer Folklore. Doch gibt es Vorstellungen, die uns Vernunft und Rationalität vergessen lassen: Jene Positionen und Anschauungen anderer, die unseren Grundwerten fundamental zuwiderlaufen und uns das Gefühl vermitteln, nicht einem Individuum wie uns selbst, einem fairen Partner im Streit um das bessere Argument, sondern einem Feind, einem willfährigen Agenten des Bösen gegenüberzustehen, dessen Ideale und Ziele alles bedrohen, wofür man selbst zu kämpfen glaubt. Wo Argumente nicht mehr zu helfen scheinen, wo Denker fremder Ideen immer schwerer von Teufeln, Hexen und Dämonen zu unterscheiden sind, da bleibt nur die Ignoranz oder die Gewalt. Im vermeintlich dualistischen Streit von Schwarz und Weiß, Licht und Dunkelheit, Gut und Böse, droht der zivilisatorische Rückfall in das Zwielicht der Barbarei. Das ist das wahre Grauen, welches es zu verhindern gilt, so die Menschheit ihr Potential erfüllen will.

In der Zeit von Ende September bis Ende Oktober wollen wir deshalb versuchen, den mutigen Schritt in die Dunkelheit zu wagen und unseren eigenen Feindbildern offen ins Gesicht zu blicken. Wir verlassen die komfortable Gemeinschaft der Gleichgesinnten und stellen scheinbar selbstverständliche Überzeugungen infrage. Vor allem aber üben wir uns in der schwierigen Kunst, auf Menschen zuzugehen, die uns im ersten Moment wie böswillige Feinde erscheinen, ihnen zuzuhören, ihre Positionen nachzuvollziehen und uns konstruktiv mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen – zum beiderseitigen Vorteil.

In diese Zeit der kritischen Reflektion fällt ein besonderer Feiertag: Am 26. September erinnern wir uns am Petrov Day daran, wie ein sowjetischer Oberstleutnant namens Stanislav Petrov den Atomkrieg verhinderte. Er erkannte, dass die Warnung des Satellitensystems ein Feher war, und entschied eigenmächtig, eine Eskalation zu verhindern – eine Tat, mit der er eine Katastrophe für die gesamte Menschheit abwendete. Petrovs Tat soll uns dazu inspirieren, mit Bedacht vorzugehen und Konflikte einzudämmen, statt auf gnadenlose Vergeltungsschläge zu setzen.

Wir wissen, wie leicht wir irren können. Um so wichtiger ist es, mit wachem Blick durch die Welt zu gehen und gerade jenen zu lauschen, deren Worten wir unter normalen Umständen nie Beachtung schenken würden. Die Erfahrungen jenseits unserer Lebensrealität, die uns im Gespräch zuteil werden, können wertvoller sein als jede eigene Erkenntnis. 

Doch nur, weil wir voller epistemischer Neugierde die Hand zur Kooperation ausstrecken, heißt dies nicht, dass wir naiv davon ausgehen, dass es dort draußen keine böswilligen Absichten gäbe. Nur wenn unser Blick von äußerster Klarheit und Unvoreingenommenheit geschärft ist, können wir unterscheiden zwischen unseren simplifizierenden Projektionen und bequemen Vorurteilen und den wahren Gefahren für alles Gute und Wertvolle, dass die Menschheit je errungen hat. Doch davon auszugehen, dass das Böse ausgerechnet perfekt in die Schablone der eigenen, vorgefassten Überzeugungen passt, ist an Selbstgefälligkeit kaum zu überbieten. 

Wir müssen jede Position, auch unsere eigene, nach bestem Wissen hinterfragen, um uns Schritt für Schritt der Wahrheit zu nähern. Und wir müssen den Mut haben, die Tatsachen zu akzeptieren, auch wenn sie uns nicht gefallen – was wahr ist, ist wahr, und die Augen zu verschließen ändert nichts daran.  Über Schwäche kann man hinauswachsen, doch Arroganz ist tödlich.

Ganz konkret gesprochen versuchen wir in den Tagen und Wochen, mit verschiedenen Projekten und Aktivitäten unser kritisches Denken und unsere Offenheit für sachliche Argumente zu stärken und Vorurteile abzulegen.

Mit Hilfe der Double-Crux-Technik können zwei gegensätzliche Positionen auf gemeinsame faktische Fragen reduziert werden. Durch Street Epistemology ist es einerseits möglich, religiöse oder abergläubische Vorstellungen zu hinterfragen, zugleich können damit aber auch die Fundamente weltanschaulicher und moralischer Prinzipien analyisiert werden. Wir begeben uns in die Höhle des Löwen und treten mitten unter unsere vermeintlichen Feinde, um ihr wahres Gesicht zu sehen und einen Einblick in ihre Welt zu erhalten. So erweist sich manches demaskierte Schreckgespenst als allzu menschliches. Komplexe und kontroverse Themen können wir mit Hilfe eines konstruktiven Gegenspieler mit einer adversen Kollaboration auf Herz und Nieren prüfen. Und vielleicht befassen wir uns auch einfach nur mit einigen verflucht schweren Fragen, die unseren Freunden möglicherweise ganz unbekannte Seiten an uns zeigen. Dazu haben wir auch eine Reihe inspirierende Lieder und zum Nachdenken anregende Texte, die uns in die richtige Stimmung bringen sollen, Mythen und Ideologien zu hinterfragen.

Am Ende des Oktobers ist es Zeit für die erneute Zusammenkunft, die Rückkehr in die Gemeinschaft der Gleichgesinnten. Bei einem Spaziergang durch die Nacht tauschen wir die gewonnenen Erkenntnisse aus. Und wer kann schon sagen, ob uns nicht auch ein vermeintlicher Fremder dabei begleitet, ein einstiger Dämon, der, der Maske entrissen, sich doch nur als Mensch erweist und dessen Ziele den unsrigen vielleicht doch gar nicht so unähnlich sind, sodass wir gemeinsam Licht ins Dunkel tragen – auf dass die Flamme der Aufklärung weiter brennen möge.