Asche und Schnee

Das Jahr: 1812. Christian von Martens ist ein talentierter Maler von Aquarellen und von Beruf Leutnant in der Württembergische Armee. Als Teil der Grande Armée überquert er im Sommer die Memel, gemeinsam mit über 600.000 anderen Soldaten. Napoleon glaubt an eine schnelle Entscheidung des Russlandfeldzugs. Die Versorgung der Armee mit Verpflegung und Ausrüstung ist eine Katastrophe. Tausende Pferde und Soldaten sterben an den Gewaltmärschen, wenn sie nicht von der Ruhr dahingerafft werden. Es gibt kaum Zelte, viele Soldaten müssen unter freiem Himmel übernachten. Tausende desertieren. Im besetzten Moskau schreibt Leutnant von Martens sein Tagebuch. Nur noch 100.000 Soldaten sind übrig, und Napoleon muss endlich den Befehl zum Rückzug geben. Am 6. November beginnt es zu schneien. “Der Rückzug verwandelt sich mehr und mehr in eine wilde Flucht. “Schlecht gekleidet, […] ohne Nahrung  […] zog alles stumm über die weite Schneefläche”, so notiert es von Martens mit steifen Fingern in seinem Tagebuch. Die Soldaten hungern, viele erfrieren oder ertrinken, als sie versuchen, den eisigen Fluss Beresina zu überqueren. Am 6. Dezember erreichen die Temperaturen minus 37 Grad. Der Kampf ums Überleben nimmt immer unmenschlichere Züge an. Ein russischer Leutnant berichtet, er habe “einen Haufen von ganz nackten Leichen” gesehen, “auf diesen saßen noch Lebende, die am Fleisch ihrer Kameraden nagten und wie wilde Tiere brüllten”. Als von Martens sich mit letzter Kraft über die russische Grenze schleppt, sind nur noch 30.000 Soldaten übrig. Insgesamt starben auf beiden Seiten zusammen etwa eine Millionen Soldaten und Zivilisten – vollkommen umsonst.

Das Jahr: 1943. Es ist ein besonders heißer und trockener Sommer in Deutschland. Am 27. Juli, kurz vor Mitternacht, ertönt über Hamburg Fliegeralarm. Eineinhalb Millionen Einwohner fliehen in die Luftschutzbunker und Keller. Doch die heißen Brandgase durchstoßen die kühleren Luftmassen in der Atmosphäre darüber bis in 7000m Höhe und bildeten einen atmosphärischen Kamin, der einen Feuersturm erzeugt. Zehntausende Brände vereinen sich innerhalb weniger Minuten zu einem einzigen großen Feuer. In den schmalen Straßen wird die Luft wie in einem riesigen Kamin angesogen. Der Feuersturm wird zum Orkan, in dessen Zentrum 1000 Grad herrschen. Die peitschenden Luftmassen entwurzeln meterdicke Bäume und wirbelten Trümmerteile durch die Straßen. Menschen ersticken an Kohlenstoffmonoxid und anderen Rauchgasen, der Druck explodierender Luftminen lässt ihre Lungen reißen, sie sterben an Hitzschlag in den glühenden Schutzräumen, werden unter Trümmern begraben, ersticken oder verbrennen durch mit Phosphor versetzten klebrigen, brennenden Kautschuk der abgeworfenen Brandkanister. Am nächsten Morgen liegt eine sieben Kilometer hohe Rauchwolke über der Stadt, die den Himmel verdunkelt. Im Osten ist die Sonne nicht mehr zu sehen. Graue Asche fällt vom Himmel wie dicke, schmutzige Schneeflocken. Ein grotesker, glühender Winter mitten im Sommer.

Das Jahr: 1970. Es ist ein kühler, windiger 18. Dezember in Nevada, als eine 10-Kilotonnen schwere Atombombe in Nevada explodiert. Eine große Wolke aus Feuer und Rauch steigt in die Luft, bis in eine Höhe von drei Kilometern. Es ist “nur” ein Test, einer von 16 Atomwaffentests, die 1970 und 71 auf dem Gelände in Nevada durchgeführt wurden. Doch obwohl die Bombe unterirdisch gezündet wurde, entweicht radioaktives Material durch Spalten im Erdboden. Die Partikel werden von Winterstürmen und Starkwinden bis nach Kalifornien, Nevada und Idaho transportiert, wo sie als radioaktiver Schnee zu Boden fallen. Am stärksten trifft es die Arbeiter auf dem Testgelände. Zwei von ihnen starben wenige Jahre später an Leukämie. Es war nur ein vergleichsweise kleiner Sprengsatz, nur eine Übung, die keine Menschen hätte töten sollen. Doch sie wirft einen langen Schatten, den Schatten eines nuklearen Krieges, der nur wenige Jahre später beinahe ausgebrochen wäre.

Das Jahr: 1983. Eine Sirene heult auf. Auf dem Überwachungsbildschirm des Frühwarnsystems erscheinen fünf Raketen – und der sowjetische Offizier Stanislav Petrov muss eine Entscheidung treffen.

Erst drei Wochen zuvor hatten sowjetische Abfangjäger einen Handelsjet abgeschossen, weil sie glaubten, er befände sich auf einer Spionagemission. Alle 269 Menschen an Bord starben, darunter ein US-Senator. Präsident Reagan nannte die Sowjetunion ein “evil empire.” Ein Krieg kann jederzeit ausbrechen.

Noch immer heult die Sirene. Die fünf amerikanischen Raketen werden in wenigen Minuten Russland erreichen. Dem Protokoll zufolge muss Petrov den Angriff seinen Vorgesetzten melden, damit sie entscheiden können, ob ein Gegenangriff gestartet werden soll. Er weiß, was auf dem Spiel steht.

“Ich habe ungefähr eine Minute nachgedacht”, erinnert sich Petrov später. “Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren… Es war, als säße ich auf glühenden Kohlen.”

Einhundert Untergebene warten auf seine Entscheidung. Und Petrov entschließt sich, dem System keinen Glauben zu schenken. Sein Bauchgefühl lag richtig: Das Frühwarnsystem hatte falschen Alarm gegeben, die vermeintlichen Raketen waren nichts als Lichtreflexe. An diesem Tag entging die Welt knapp der Zerstörung.

Hätte Stanislav nicht einen kühlen Kopf bewahrt, hätten die sowjetischen Streitkräfte ihre Raketen abgefeuert und die Amerikaner ebenso reagiert. Die Raketen wären still am Nachthimmel über der Arktis aneinander vorbeigezogen, ehe sie in hunderte Städte eingeschlagen wären. Erst hätten die Sirenen geheult und Feuerstürme gewütet. Und später wären radioaktiver Schnee und Regen auf unzählige Städte zwischen New York und Moskau gefallen. Manche Wissenschaftler vermuten, dass die Asche der Feuerstürme den Himmel verdunkelt und einen nuklearen Winter ausgelöst hätte. Sicher ist, dass ein großer Teil der nördlichen Hemisphäre zerstört worden wäre. Dafür, dass Stanislav Petrov dies verhinderte, erhielt er keinerlei offizielle Anerkennung.

Das Jahr: Sieben Milliarden. Die Sonne, die uns wärmt und Leben spendet, ist für immer erloschen, und dieser Teil der Galaxie liegt in ewiger Finsternis und Kälte. Nichts regt sich mehr dort, wo die Erde war. Doch  wie lange schon? War es der Tod unserers Sterns, der auch uns sterben ließ, oder ist das Licht der Menschheit viel früher schon erloschen? 

Blicken wir auf die Geschichte der unserer Spezies, so dauert sie nur einen Herzschlag im Vergleich zu den Maßstäben des Kosmos. Doch auch in dieser vergleichsweise kurzen Zeit haben wir es geschafft, unser eigener schlimmster Feind zu werden. Die Natur mag gleichgültig und erbarmungslos sein, doch was sich Menschen gegenseitig antun, ist von einer geplanteren Perfidie. Immer wieder treffen wir willentlich die Entscheidung, menschliches Leben, dass doch so kostbar sein sollte, tausendfach, millionenfach zu opfern. Die Menschheit ist so fragil, so entsetzlich leicht zu zerstören. Was braucht es dafür? Einen Asteroid, einen Supervirus, außer Kontrolle geratene Nanobots, eine künstliche Superintelligenz? Oder genügt auch ein Lichtreflex, der ein wenig so aussieht wie eine Rakete?

Wir müssen vorsichtiger und klüger werden, wenn wir als Zivilisation überleben wollen – bis über den Tod der Sonne hinaus, oder auch nur die nächsten eintausend Jahre. Wir müssen weiser werden, sonst war die Existenz unserer Zivilisation nichts als ein kurzes Aufflackern, und die Sterne funkeln kühl und unerreicht über einer Erde, die unser Grab geworden ist.

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